1844 -
Darmstadt
: Ollweiler
- Hrsg.: Nister, Friedrich
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
233
261. An eine alte Eiche.
Unter deines Schattens heil'gem Düster, das so freundlich
mir zur Seite winkt, wo der Lüfte Weh'n im Blattgeflüster mir
wie frommer Geister Nähe dünkt, sinn' ich einsam deinem Sein
und Werden, der Geschichte deines Lebens nach. Sprich, wie
war es damals hier auf Erden, als dein Keim aus diesem Boden
brach? — Wohl ein halb Jahrtausend ist verflossen, seit
dein junger Sprößling aufwärts stieg. Wie viel Thränen sind
seitdem vergossen! Wie verheerend tobten Pest und Krieg! Wie
verwandelten sich die Gestalten dieses Landes, das dir Nahrung
gab! Wie viel Sitten sahest bu veralten! Wie viel Völker traten
auf und ab! — — Blitze rasselten um deine Krone, und der
Sturm zerschüttelte dein Haar; Flnthen braust'ten oft an deinem
Throne: Doch du standest fest von Jahr zu Jahr. Wie viel
Menschen sind auf deinen Fluren hingestorben und vom Hauch
verweht! Ach, der Mensch mit seiner Gottheit Spuren muß ver-
wesen, — und ein Baum besteht! — Und wie viele werden noch
vermodern, eh' dein Gipfel sich zur Erde bricht! Aber dau're! —
sieh', wir Menschen fodern deines Lebens leere Dauer nicht. Einst
vergehst du doch mit Stamm' und Laube, und dein Wesen, edler
Baum, zerfällt; doch der Mensch erhebt aus seinem Staube sich
empor zu einer besseren Welt.
262. Aehnlichkeit der Pflanzen mit den Thieren.
Die Pflanzen gleichen in vielen Dingen den Thieren. Gebo-
ren aus dem milchreichen Samen, wie das Thier aus dem Ei,
saugen sie aus der Erde ihre Nahrung, und die Wurzel ist ihr
Mund. Wie das Blut in den Thieren, steigen in ihnen Säfte
verschiedener Art auf und ab. Sie athmen, dünsten aus, wie die
Thiere, und sterben ohne Nahrung oder im Uebermaße der Hitze
oder Kälte, wie die Thiere.
Wie bei den Thieren, findet bei den Pflanzen auch Begattung
statt. Zur Zeit der Blüthe geht die Begattung dadurch vor sich,
daß der Blüthenstaub der Männlein sich an die klebrigen Fäden
der Weiblein hängt.
Gleich den Thieren, scheinen viele Pflanzen bei einbrechender
Nacht zu schlafen. Sie verschließen ihre Blumenkelche, sie legen
ihre Blätter zusammen; sie erwachen nicht, bis die Sonne
hervorsteigt. Aber wie unter den Thieren viele des Tages ruhen,
und erst in der Nacht herumschwärmen, so sind auch manche Pflan-
zen am Tage unthätig; sie wachen erst mit den Sternen auf und
streuen ihre Wohlgerüche in der stillen Dämmerung aus.
Manche Pflanzen verrathen sogar thierische Empfindungen.
Die in Brasilien wachsende Mimose (Sinnpflanze) zieht schüchtern
ihre Blätter zusammen, wenn man sie berührt, sie läßt ihre Blät-
ter traurig niederhängen, wenn man sie schlägt over stark erschüt-
tert. An den meisten Gewächsen aber bemerkt man besonders ihre
Liebe zum Lichte. Welch ein wetteiferndes Gedränge der Bäume