1867 -
Rostock
: Hirsch
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Bürgerschule, Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
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Vor der Stadt Antiochia, die mit einer zweifachen Mauer und
vierhundert Thürmen umgeben war, lagen sie volle neun Monate,
ehe sie dieselbe erobern konnten. Da wurde die Noth im Lager-
groß und erreichte solche Höhe, daß Leder, Baumrinde und das
Fleisch der gefallenen Thiere gegessen wurde und viele Menschen
vor Hunger starben. Wunder des Muthes und der Tapferkeit
wurden dort gethan, wie sie nur die größten Helden der Vorzeit
ausgerichtet haben. Vor allen ragte Gottfried durch unerschütter-
liches Gottvertrauen und unbezwinglichen Heldensinn hervor. Einst
hatte er einen Zweikampf mit einem riesigen türkischen Reiter. Eine
Zeit lang hatte der Kampf gedauert, ohne daß eine Entscheidung
erfolgt war; da holte der Türke zu einem fürchterlichen Schlage
aus iinb hieb mit einem einzigen Hiebe den Schild des Christen
mitten durch, daß er in zwei Stücken zur Erde siel. Nun hob sich
Gottfried hoch empor in den Bügeln und schwang mit beiden Hän-
den sein Schwert durch die Luft, daß es sauste und pfiff. Auf die
linke Schulter des Türken fuhr das Schwert nieder und ging schräge
durch die Brust hindurch, bis es an der rechten Hüfte wieder her-
auskam. „Zur Rechten sah man, wie zur Linken einen halben
Türken niedersinken. Da saßt die andern kalter Graus: sie fliehen
in alle Welt hinaus."
Nach nenn Monaten bekamen sie die Stadt in ihre Gewalt.
Ein grausiges Gemetzel begann in den Straßen, als die Christen
eindrangen. Nicht Kinder, noch Greise, nicht Kranke noch Schwache
wurden verschont. Alles, was sich sehen ließ, wurde niedergemacht,
zur Rache für das Elend, welches die Belagerer vor den Mauern
erdnldet hatten.
Von Antiochien ging der Marsch weiter nach Jerus al em.
Am 6. Juni 1099 sahen sie von einer Anhöhe herab die Stadt
Gottes im Glanze der Abendsonne vor sich liegen. Da fielen die
müden und abgezehrten Krieger auf ihre Kniee, sangen Lob- und
Danklieder und priesen Gott mit Thränen der Freude, daß er sie
gewürdigt hatte, die heilige Stadt mit Augen zu sehen. Sie hätten
gerne sogleich den Sturm unternommen; aber das wäre Vermessen-
heit gewesen. Jerusalem war stark befestigt und mußte regelrecht
eingeschlossen lind belagert werden. Nach einigen Wochen waren
die Vorkehrungen getroffen, und der Sturin konnte beginnen. Mit
beispiellosem Muthe griffen die Christen an; mit einer Todesver-
achtung, die aus dem Glaubeil kam, daß sie sich den Himmel ver-
dienten, gaben sie ihr Lebeil preis; Berge von Leichen häuften sich
ans; aber der Abend kam heran, und die Christen mußteil zurück-
gehen, ohne das Geringste erreicht zu haben.
Am folgenden Tage, den 15. Juli, wurde der Kamps von bei- .
den Theilen, wo möglich mit noch größerer Wuth erneuert. Auch