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1. Lesebuch für die Volks- und Bürgerschulen in Mecklenburg-Schwerin - S. 209

1867 - Rostock : Hirsch
209 Bäume ein Laubdach bilden, während kleinere Arten, deren Stämme den Raum zwischen den Stämmen der großen ausfüllen, ein zweites, niedrigeres Laubdach unter den Kronen der erstem bilden. Viele Bäume haben rings um den Stamm hohe aus der Erde hervorragende Wurzeln, welche diesen wie Strebepfeiler umgeben, als ob sie ihn stützen wollten. Bei andern be- rührt der Stamm gar nicht einmal den Boden, sondern wird schwebend gehalten von mächtigen Wurzeln, die ihn, je länger sie werden, desto mehr in die Höhe heben. Oben in den Kronen wuchern Luftpslanzen mancherlei Art, die ihre Nahrung aus der Luft ziehen und fingerdicke Luftwurzeln gleich Stricken zur Erde niederlassen. Die Farrenkräuter werden baumartig hoch und halten auf einem zwanzig Fuß hohen Stiele ihr rundes Schirmdach ausgebreitet. An feuchten Stellen gedeihen die Sumpfblumen in ungeahnter Menge, Höhe und Pracht. Das Riesengras wächst in garbenförmigen Büscheln bis zu 40 Fuß hoch und macht dort, wo es steht, den Wald undurchsichtig und undurchdringlich. Endlich, wo noch ein Plätzchen zu finden ist, ziehen sich Schlingpflanzen hin, die von der Dicke eines Zwirnfadens bis zu der Stärke eines Armes von den Ästen niederhängen, über die Krone sich weg- ziehen und in ihren tausendfachen Verfilzungen ein Tauwerk bilden, das durch nichts als durch ein scharfes Beil zu entwirren ist. Kein Plätzchen ist ohne Leben. Auf der Erde, an den Stämmen, in der Luft zwischen Ästen und Boden rankt, grünt und blüht es in üppigster Fülle. Der Urwald hat viele Bewohner: bunte Schmetterlinge, bunte Schlan- gen, bunte Kolibris und Papageien; aber Singvögel und alle vorzüglicheren Thierarten fehlen ihm. Im ganzen herrscht eine beängstigende Stille, die nur zuweilen durch ein widerliches Geschrei unterbrochen wird. Am belebtesten und üppigsten ist die kolossale Waldung am Amazonenstrome, die sich über das ganze nördliche Brasilien bis in Peru und Bolivia hinein erstreckt. Hun- derte von Meilen kann man auf dem ungeheuren Flusse fahren und sieht täglich dieselben Erscheinungen sich wiederholen. Morgens früh, wenn die Luft noch kühl ist, steht der dunkle Waldesrand wie schlafend im schweren Thau der Nacht. Eine unendliche Stille liegt auf Fluß und Wald. Sobald die Sonne aufgeht, erhebt sich ein leiser Wind; die Wellen kräuseln sich; die Zweige schütteln die schweren Thautropfen ab; einzelne Thiere werden wach und ziehen in die Kronen der Bäume hinauf, um sich zu sonnen. So wie die Wärme zunimmt, nimmt auch das Leben zu. Geier und Reiher ohne Zahl rühren sich in den Zweigen ; Schmetterlinge von allen Farben und bunte Kolibris bis zur Kleinheit einer Biene fliegen munter umher; zahllose Scharen von Enten gehen aufs Wasser; Wolken von Möven ziehen auf den Fischfang aus; unabsehbare Flüge von Papageien lassen sich auf die fruchttragenden Bäume nieder und erfüllen mit den Brüllaffen um die Wette die Luft mit ihrem unangenehmen Geschrei. Im Schlamme des Ufers sonnt sich das scheußliche Krokodil. Knarrende, klappernde und kreischende Töne hört man genug, aber keinen Vogel, der sich auch nur mit Lerche oder Buchfink messen könnte. Die unermeßlichen Räume werden fast nur von Indianern bewohnt, die wohl noch eine Reihe von Jahren dort leben können, ohne daß sie das Schicksal ihrer Brüder im Norden, die Annäherung der Weißen und die Lich- tung ihrer Wälder, zu besorgen haben werden. 14
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