1867 -
Rostock
: Hirsch
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Bürgerschule, Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
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Bäume ein Laubdach bilden, während kleinere Arten, deren Stämme den
Raum zwischen den Stämmen der großen ausfüllen, ein zweites, niedrigeres
Laubdach unter den Kronen der erstem bilden. Viele Bäume haben rings
um den Stamm hohe aus der Erde hervorragende Wurzeln, welche diesen
wie Strebepfeiler umgeben, als ob sie ihn stützen wollten. Bei andern be-
rührt der Stamm gar nicht einmal den Boden, sondern wird schwebend
gehalten von mächtigen Wurzeln, die ihn, je länger sie werden, desto mehr
in die Höhe heben. Oben in den Kronen wuchern Luftpslanzen mancherlei
Art, die ihre Nahrung aus der Luft ziehen und fingerdicke Luftwurzeln gleich
Stricken zur Erde niederlassen. Die Farrenkräuter werden baumartig hoch
und halten auf einem zwanzig Fuß hohen Stiele ihr rundes Schirmdach
ausgebreitet. An feuchten Stellen gedeihen die Sumpfblumen in ungeahnter
Menge, Höhe und Pracht. Das Riesengras wächst in garbenförmigen Büscheln
bis zu 40 Fuß hoch und macht dort, wo es steht, den Wald undurchsichtig
und undurchdringlich. Endlich, wo noch ein Plätzchen zu finden ist, ziehen
sich Schlingpflanzen hin, die von der Dicke eines Zwirnfadens bis zu der
Stärke eines Armes von den Ästen niederhängen, über die Krone sich weg-
ziehen und in ihren tausendfachen Verfilzungen ein Tauwerk bilden, das durch
nichts als durch ein scharfes Beil zu entwirren ist. Kein Plätzchen ist ohne
Leben. Auf der Erde, an den Stämmen, in der Luft zwischen Ästen und
Boden rankt, grünt und blüht es in üppigster Fülle.
Der Urwald hat viele Bewohner: bunte Schmetterlinge, bunte Schlan-
gen, bunte Kolibris und Papageien; aber Singvögel und alle vorzüglicheren
Thierarten fehlen ihm. Im ganzen herrscht eine beängstigende Stille, die
nur zuweilen durch ein widerliches Geschrei unterbrochen wird. Am belebtesten
und üppigsten ist die kolossale Waldung am Amazonenstrome, die sich über
das ganze nördliche Brasilien bis in Peru und Bolivia hinein erstreckt. Hun-
derte von Meilen kann man auf dem ungeheuren Flusse fahren und sieht
täglich dieselben Erscheinungen sich wiederholen. Morgens früh, wenn die
Luft noch kühl ist, steht der dunkle Waldesrand wie schlafend im schweren
Thau der Nacht. Eine unendliche Stille liegt auf Fluß und Wald. Sobald
die Sonne aufgeht, erhebt sich ein leiser Wind; die Wellen kräuseln sich; die
Zweige schütteln die schweren Thautropfen ab; einzelne Thiere werden wach
und ziehen in die Kronen der Bäume hinauf, um sich zu sonnen. So wie
die Wärme zunimmt, nimmt auch das Leben zu. Geier und Reiher ohne
Zahl rühren sich in den Zweigen ; Schmetterlinge von allen Farben und bunte
Kolibris bis zur Kleinheit einer Biene fliegen munter umher; zahllose Scharen
von Enten gehen aufs Wasser; Wolken von Möven ziehen auf den Fischfang
aus; unabsehbare Flüge von Papageien lassen sich auf die fruchttragenden
Bäume nieder und erfüllen mit den Brüllaffen um die Wette die Luft mit
ihrem unangenehmen Geschrei. Im Schlamme des Ufers sonnt sich das
scheußliche Krokodil. Knarrende, klappernde und kreischende Töne hört man
genug, aber keinen Vogel, der sich auch nur mit Lerche oder Buchfink messen
könnte.
Die unermeßlichen Räume werden fast nur von Indianern bewohnt, die
wohl noch eine Reihe von Jahren dort leben können, ohne daß sie das
Schicksal ihrer Brüder im Norden, die Annäherung der Weißen und die Lich-
tung ihrer Wälder, zu besorgen haben werden.
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