1867 -
Rostock
: Hirsch
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Bürgerschule, Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
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Falle auf dem Pferds ein wenig mürbe geritten hatten. Sie schweiften un-
stat umher, ohne Häuser, selbst ohne ordentliche Hütten zu haben. Ihre
schmutzigen Weiber und Kinder führten sie auf Karren mit sich. Durch ihr
Erscheinen in Europa erregten sie unter den germanischen Völkern eine große
Bewegung, die man die Völkerwanderung nennt.
Bei ihrem Zuge trafen sie zuerst auf die Ostgothen. Diese wichen
und warfen sich auf ihre Nachbarn, die Westgothen. Letztere zogen sich
nach Griechenland und darauf westlich nach Italien zu. Als ein Volk, wel-
ches der Übermacht weichen mußte, wareu sie ausgezogen: als ein eroberndes
Volk kamen sie in Italien an. Sie gingen gerade auf Nom los. Zweimal
ließen sie sich durch große Summen Goldes abkaufen: zum dritten Male
nahmen sie mit stürmender Hand die Stadt, die seit Hannibals Zeiten keinen
Feind gesehen hatte, und plünderten die reichen Schätze, die Jahrhunderte
lang aus alleu Ländern zusammengeraubt waren. Von da zogen sie weiter
nach Westen, setzten sich an beiden Seiten der Pyrenäen fest und gründeten
dort ein großes Reich.
Während deutsche Völker ein Stück nach dem andern von dem römischen
Reiche in Besitz nahmen, rückten immer neue Scharen von Hunnen aus Asien
heran und überschwemmten das östliche Europa. Ein kühner Führer, At-
tila, der sich selbst am liebsten Godegisel, d. i. Gottesgeißel, nannte, ver-
einigte sämmtliche Stämme der Hunnen und machte sich zum Herrn über
alle Völker, die von der Wolga bis zur Donau wohnten. In den Ebenen
von Ungarn hatte er sein Zelt aufgeschlagen. Eine Menge unterworfener
Könige diente ihm; fremde Gesandte kamen von weit her und suchten de-
müthig seine Gunst. Der griechische Kaiser mußte jährlich zweitausend Pfund
Goldes zahlen, um sein Land vor den Verheerungen der schrecklichen Nach-
barn zu schützen. Im Jahre 451 brach Attila mit einer halben Million
Krieger auf und zog durch Deutschland nach Gallien. Feuer und Schwert
bahnten ihm den Weg. Städte und Dörfer gingen in Flannnen aus. Die
Menschen wurden zu Tausenden mit kaltem Blute gemordet, wenn sie sich
nicht entschlossen, dem wilden Zuge sich anzureihen. Angesichts der schreck-
lichen Gefahr vergaßen die Völker Europas auf kurze Zeit ihren Hader und
vereinigten sich gegen den gemeinschaftlichen Feind. Auf den cata launi-
schen Feldern, bei der jetzigen Stadt Chalons,. trafen die Heere auf ein-
ander. Es war eine rechte Völkerschlacht, die dort geschlagen wurde;
denn die Völker Europas von der Wolga bis an das atlantische Meer stan-
den sich feindlich gegenüber. Beide Theile kämpften mit äußerster Kraft.
An 160000 Leichen sollen das Schlachtfeld bedeckt haben. Attila mußte zum
ersten Male in seinem Leben zurückgehen. Die Erinnerung an die mörde-
rische Schlacht prägte sich dem Gedächtnisse der Menschen tief ein. Roch
heute geht in jener Gegend die Sage, daß jährlich, wenn der Tag wieder-
kehrt, die Geister der Erschlagenen in der Mitternachtsstunde auf das Schlacht-
feld zurückkehren und in der Luft ihren Kampf fortsetzen.
Im nächsten Jahre versuchte Attila sein Glück in Italien. Schreck und
Entsetzen gingen vor ihm her. Viele Menschen flohen auf die Inseln in den
Lagunen und bauten sich dort an. Aus Rom zog Papst Leo der Große
dem furchtbaren Feinde feierlich entgegen, um Schonung für die Stadt zu
erbitten. Es ist kaum glaublich, daß allein das Wort eines fremden Prie-
sters das Herz des wilden Eroberers gerührt haben sollte. Aber dem sei,
wie ihm wolle, Attila verschonte Rom und kehrte nach Ungarn zurück. Im
folgenden Jahre starb er eines plötzlichen Todes. Sein Reich, das wie ein
blutiger Feuerschein eine Zeit lang geleuchtet hatte, zersiel in mehrere Theile,