1865 -
Leipzig
: Amelang
- Autor: Fix, Wilhelm
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Inhalt Raum/Thema: Weltkunde
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Grauenerregend ist der Anblick der Ljanos, wenn in der entsetzlichen Gluth des Sommers
die Grasdecke verbrannt, verkohlt und in Staub zerfallen ist. Die Menschen sind ent-
flohen; die ganze Natur lechzt im Todesschlafe. Wolken von Staub werden von jedem
Lüftchen emporgejagt, während der brennendheiße Boden sich zerspaltet und zerklüftet.
Tritt aber die Regenzeit ein, so verwandelt sich das Bild der Landschaft wie mit Einem
Schlage. In wenigen Tagen sprießt das üppigste Grün hervor; die von der Hitze
verscheuchten Rinder und Pferde tummeln sich in dem erfrischenden Grase umher; im
Schilf versteckt sich der Jaguar, das schöngefleckte amerikanische Raubthier aus dem
Katzengeschlechte, um seine Bente zu beschleichen. Steigt die Fluth höher, so wird die
Ebene zu einem ungeheuren See, aus dem nur wenige Hügel hervorragen, — die letzte
Zuflucht der geängsteten Heerden. *) Gar manches edle Thier ist von der Fluth ereilt
und von dem amerikanischen Krokodil, dem Kaiman oder Alligator überwältigt
worden, dessen Reich jetzt beginnt. Er hat nur halbe Schwimmhäute^und eine sehr
stumpfe Schnauze; auch ist er nur halb so groß. wie das Nilkrokodil (S. 296); seiner
Gefräßigkeit wegen ist er jedoch nicht weniger gefürchtet. An manchen Stellen ist der
Spiegel des Slromes, so weit das Auge blickt, mit Kaimans bedeckt, die wie die Balken
einer Brücke aneinander gereiht sind. Wehe dem Fahrzeuge, das sich in ihre Nähe wagt!
In den Sümpfen und Pfützen am Rande des See's erwacht der Zitteraal ans
seinem Sommerschlafe, jener aalartige, 5,—6 Fnß lange Fisch, welcher vermöge eine«
besonderen Organes starke elektrische Schläge auszutheilen im Stande ist, mit denen er
sich in Ermangelung anderer Waffen gegen seine Feinde wehrt oder seine Beute über-
wältigt. Hat er jedrch mehrere Schläge nacheinander dem Gegner beigebracht, so verliert
er die Kraft dazu, und die Indianer werden seiner dadurch Meister, daß sie Pferde in
die Sümpfe jagen, in denen er haus't. Die armen Thiere werden mit derben Schlägen
empfangen und suchen dem unsichtbaren Feinde zu entrinnen. In wilder Angst eilen
sie dem Ufer entgegen, doch werten sie von den dort aufgestellten Indianern wieder in
den Sumpf zurück getrieben. Manche erliegen den heftigen Angriffen; endlich jedoch
ermattet die Kraft deö Siegers. Die Zitteraale selbst sind eö jetzt, die den Kampf auf
geben und sich vor den schäumenden, stampfenden Rossen ans Ufer zurückziehen, wo sie
nun vermittelst kleiner, an langen Stricken befestigter Harpunen getödtet werden. —
Ein noch wertvolleres Erzeugniß des Thierreichs sind die Schildkröten cier, die in
ungeheurer Menge an den sumpfigen Ufern deö Stromes und auf den Inseln abgesetzt
werden. Sie bilden ein vorzügliches Nahrungsmittel; außerdem wird anö ihnen ein
Oel gewonnen, das weit umher versandt wird.
Die Bevölkerung der Steppen am Orinoco besteht fast nur aus Iudiancrstänimcn.
Da finden sich au den Mündungen des Strome« noch die Ueberreste der Karaiben **),
die vor der Ankunft der Europäer das ganze Küstengebiet sammt den südlichen
Inseln besetzt hielten. Die Fächer Palme ist der wahre Lebensbaum dieser klcinge
wordenen Zahl unüberwundener Indianer. Hängematten, aus den Stielen der Blätter
gewebt, spannen sie künstlich von Stamm zu Stamm, um nach Art der Äffen aus den
Bäumen zu leben, wenn der vom Himmel herabströmende Regen ihre Wöhnplätze
überschwemmt. Unter den dicht verwachsenen Kronen sind sie sicher vor Sturm und
Regen. Mag sich auch die ganze Gegend zum See umwandeln, — der Karaibe bleibt
ruhig und sorglos in seiner kleinen, nestartigen Hütte, die er tagelang nicht zu ver-
lassen braucht, da der Baum ihm bietet, was er zu seiner Nahrung bedarf: Mark,
Saft und Früchte. Der Kahn, am Stamme festgebunven, schaukelt sich auf dem Wasser;
der Indianer benutzt ihn nur, wenn ihn nach Fhschnahrung gelüstet. Fackellicht lockt
die Fische herbei, die er alsdann mit dem Wurfspeere oder mit dem Pfeil erlegt. Die
entsetzliche Sitte, gefangene Feinde zu schlachten und zu verzehren, um derer willen
ihre Borfahren vorzugsweise als Menschenfresser bezeichnet worden sind, soll auch jetzt
noch nicht ganz von den Karaiben aufgegeben sein. Nur wenige haben au feste Wohn-
sitze gewöhnt werden können; die meisten ziehen unablässig von Ort zu Ort. Das
Christenthum hal keinen Eingang bei ihnen gefunden. Zwar waren, aller Gefahren
ungeachtet, seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts Missionare aus der Brüdergemeinde
bemüht, in jenen ungesunden Küstengegenden das Evangelium zu verkündigen, auch war
es ihnen schon gelungen, mehrere Missionsstationen zu begründen, als etwa ums Jahr
*) Der Orinoco tritt alsdann sogar mit einem Nebenflüsse deö A in a z o n e n str o me S in Ber-
bindung, so dass eine Stromgabelung cnlsteht; eine Erscheinung, die sich im Gebiete deö Pa-
rana wiederholt.
**) Richtiger: Kariben.
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