1808 -
Innsbruck
: Wagner
- Autor: ,
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
M Beförderung guter Gesinnungen rc. 5z
Kopf, und der Angstschweiß lief ihr von der Stirn.
Lange konnte sie es in dieser Lage nicht aushalten; sie
wagte es endlich, auf einen Augenblick den Kopf hervor-
zuziehen, und siehe da, die schreckliche weiße Gestalt
stand nicht nur immer noch an der Kammerthür, son-
dern bewegte sich auch. Jetzt sieng Wilhelmine laut an
zu schreien, und in dem Augenblicke trat ihre Mutter in
die Kammer. Aber Kind, was ist dir denn? rief sie
ihr zu; träumst du, "oder wachst du? Ach Mutter! Mut-
ter! die weiße Gestalt ! Ich glaube gar, du siehst Gespen-
ster, erwiederte die Mutter; ermuntere dich, und fasse
Muth. Was ängstigt dich denn ? Es kam nun heraus,
Laß Wilhelmine ein weißes Handtuch, das an der Kam-
merthür hieng, und worauf der Mond schien, für eine
weiße Gestalt gehalten hatte. Die Mutter hatte an der
Kammerthüre gehorcht, ob Wilhelmine schlief, und in-
dem sie die Thür öffnete, hatte sich das Handtuch bewegt.
Wilhelmine schämte sich ihrer kindischen Furchtsamkeit,
und sahe seit dieser Zeit nicht wieder Gespenster.
iy. Die gute Tochter;
^bi lhelm war sehr krank, und seine gute Mutter
hatte, aus zärtlicher Besorgniß, schon drei Nächte hin-
ter einander bei ihm gewacht. Marie, seine zwölfjähri-
ge Schwester, fürchtete, daß ihre Mutter von den vie-
len Nachtwachen endlich auch krank werden möchte. Da-
her bat sie ihre Mutter herzlich, sie möchte ihr doch er-
lauben, die vierte Nacht bei dem kranken Bruder zu wa-
chen. Aber die zärtliche Mutter wollte dieß nicht zuge-
den , theils weil Marie sehr schwächlich war, theils weil
sie fürchtete, sie möchte einschlafen , und Wilhelm dann
ganz ohne Hülfe seyn. Nun wurde es Abend, und die
abgemattete Mutter mußte sich doch endlich aufs Bette
legen, weil ihr die Augen zufielen. Maria hatte sich
zwar auch, auf Befehl ihrer Mutter, zu Bette gelegt,
aber aus Liebe und Besorgniß konnte sie nicht einschla-
fen. Als sie hörte, daß die Mutter fest schlief, stand
sie sachte auf, uahm ihr Strickzeug, und setzte sich ne-
den dem Berte ihres kranken Bruders auf die Erde.
Hier gab sie genau auf ihn Acht, und so bald er sich be-