1870 -
Altenburg
: Bonde
- Autor: Runkwitz, Karl
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
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neuen Tag mit eben so wenig Bedürfnissen, als man den alten be-
schlossen hat.
Kommt eins von den wilden Thieren der brasilianischen Einöden
nur auf hundert Schritte dem Botokuden zu nahe, so ist es seine sichere
Beute. Im Nu ist der Doppelbogen gespannt und der mit Blitzes-
schnelle fortgeschleuderte Stein trifft sein Ziel stark und sicher. So sehr
aber der Botokude die anderen Wilden noch an Klugheit und Ge-
schicklichkeit übertrifft, so steht er doch an innerer Gesittung selbst hinter
den rohesten und barbarischsten noch zurück. Selbst die Gefühle der
Freundschaft und der Familienliebe sind dem Botokuden ganz fremd.
Brüderliche Anhänglichkeit, mütterliche Zärtlichkeit, Kindesliebe sind
ihm unbekannte Dinge. Man wird geboren und man lebt. Man
spannt dem Kinde die Ohren lang, durchschneidet ihm die Unterlippe,
um das dicke Stück Holz hineinzuklammern, man gibt ihm später einen
Bogen mit Pfeilen oder Steinen, zeigt ihm die Ebene und sagt zu ihm:
„Da suche Dir Deine Nahrung und bekämpfe jedes lebende Wesen, das
Dir Widerstand leisten will." Wenn man stirbt, so fließt keine Thräne,
ertönt keine Todtenklage.
341. Das Erdbeben von Caracas.
Caracas ist die Hauptstadt von der Provinz Caracas oder Vene-
zuela, die ehemals zu dem spanischen Südamerika gehörte, nunmehr
aber eine Republik bildet. Was die Stadt Caracas betrifft, so war
sie eine lebhafte, schöne Stadt, die 40- bis 45,000 Einwohner hatte,
bis sie im Jahre 1812 durch ein Erdbeben in weniger als einer hal-
den Minute in einen Schutthaufen verwandelt wurde. Dieses schreck-
liche Naturereigniß begrub einen großen Theil ihrer Einwohner; auch
fanden über 20,000 Menschen in der Provinz Venezuela beinahe in
demselben Augenblicke den Tod, viele wurden verstümmelt und verwun-
det, und die Übergebliebenen waren dem Schmerz und der Trauer um
die Ihrigen preisgegeben.
Bereits im December 1811 ward Caracas zuerst aus seiner Sicher-
heit durch einen Erdstoß von beträchtlicher Heftigkeit aufgeschreckt. Man
beruhigte sich jedoch wieder, da beinahe drei volle Monate vergingen,
ohne daß die geringste Erschütterung erfolgt wäre. Endlich ging die
Sonne am 26. März 1812 über Caracas auf; es sollte aber den Un-
tergang nicht mehr sehen. Der Tag kündigte sich sehr heiß an, die
Luft war ruhig und der Himmel wolkenlos. Es war der grüne Don-
nerstag, das Volk strömte haufenweis zu den Gotteshäusern. Nichts
schien den Betern ihr nahes Ende zu verkünden. Es war vier Uhr
Nachmittags. Plötzlich tönten die Glocken; es war Gottes-, nicht Men-
schenhand, die sie zum Grabgeläute zwang. Eine zehn bis zwölf Se-
kunden lange Erschütterung schreckte das Volk; die Erde schien flüssig
und kochend. Man glaubte, die Gefahr sei vorüber, als sich plötzlich
der heftigste unterirdische Donner hören ließ, aber stärker und anhalten-
der, als das Rollen der Gewitter in dieser Jahreszeit. Unmittelbar
auf dieses Gewitter folgte eine senkrechte, drei bis vier Sekunden an-