1870 -
Altenburg
: Bonde
- Autor: Runkwitz, Karl
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
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haltende Bewegung, welche zu gleicher Zeit von einer horizontalen,
wellenförmigen begleitet war. Diese Stöße erfolgten in zwei sich durch-
kreuzenden Richtungen von Norden gegen Süden und von Osten nach
Westen. Diesen gleichzeitigen Bewegungen von unten nach oben und
sich durchkreuzend konnte nichts mehr widerstehen, in einer Viertelmi-
nute war Caracas ein Schutthaufen, der 9- bis 10,000 seiner Einwoh-
ner begraben hatte. Noch hatte die Procession den Umgang nicht er-
öffnet; aber das Hinzuströmen zur Kirche war so groß, daß gegen
3 bis 4000 Einwohner unter dem Einsturze ihrer Gewölbe begraben
wurden. Die Explosion war in der Nordseite der Stadt am heftigsten
gewesen. Die Kirche der Dreifaltigkeit und der Alta Gratia, die mehr
als 150 Fuß Höhe hatten, und deren Schiffe durch 12 bis 15 Fuß
dicke Pfeiler getragen wurden, lagen in einen Trümmerhaufen verwan-
delt, der nicht höher als 5 bis 6 Fuß war, und die Zermalmung des
Schuttes war so beträchtlich, daß von den Pfeilern und Säulen auch
keine Spur mehr kenntlich geblieben ist. Die Kaserne San Carlos
war beinahe verschwunden. Es stand darin ein Regiment Linientrup-
pen unter den Waffen, das sich eben zur Procession begeben sollte;
von diesem retteten sich nur wenige Einzelne, die andern lagen unter
dem Schutte vergraben, in den sich das große Gebäude so plötzlich
verwandelt hatte. Neun Zehntheile der schönen Stadt Caracas waren
gänzlich zerstört. Die Häuser, welche nicht einstürzten, waren so zer-
rissen, daß sie nicht mehr bewohnt werden konnten. Etwas weniger
verheerend zeigten sich die Wirkungen des Erdbebens im südlichen und
westlichen Theile der Stadt zwischen dem großen Platze und dem Hohl-
wege von Caragnata. Hier blieb die Kathedralkirche ausrecht stehen.
Wenn man nun erzählt, daß 9- bis 10,000 Menschen durch die Trüm-
mer der Stadt Caracas erschlagen worden seien, so scheint man damit
nur den glücklichen Theil der Bewohner bezeichnet zu haben, die plötz-
lich und unvermuthet, zum Theil in Andacht und Gebet begriffen, vom
Tode überfallen, den Leiden entnommen wurden, welche die andern
Mitbürger trafen. Man gedenke nun aber der Menge dieser Unglück-
lichen, die verwundet, an ihren Gliedern zerschmettert, noch Monate
lang zum Theil die Ihrigen überleben mußten, und dann aus Mangel
an Pflege und Nahrung dennoch umkamen. Die Nacht vom grünen
Donnerstag auf den Charfreitag bot den Anblick eines grenzenlosen
Elends dar. Beim Einsturze der Stadt hatte sich eine finstere, dicke
Staubwolke erhoben, und die Luft gleich einem dicken Nebel erfüllt
und verfinstert. Gegen Abend schlug sich der Staub zur Erde nieder,
und die Luft wurde wieder rein, die Erde war wieder fest und ruhig,
und die Nacht so stille und schön, wie je zuvor. Der fast volle Mond
leuchtete, und die ruhige heitere Gestalt des Himmels bildete einen
furchtbaren Abstich gegen die mit Trümmern und Leichen bedeckte Erde
und den namenlosen Jammer der Menschen. Mütter trugen die Lei-
chen ihrer Kinder im Arme, durch die Hoffnung getäuscht, sie wieder
in's Leben zu bringen. Jammernde Haushaltungen durchzogen die
Schutthaufen, die am Morgen noch eine Stadt waren, reich blühend,
belebt, um einen Bruder, einen Freund zu suchen, dessen Schicksal un-
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