1854 -
Hamburg
: Herold
- Autor: Thornton, F. B.
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Bürgerschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
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Die Stadt hatte eine Burg, ein starkes altes Gebäude, das
auf einem der höchsten Berge stand und sich theils durch seine Größe,
theils durch den arabischen Geschmack auszeichnete, in dem es gebauet
war. Der Adel hatte treffliche Häuser aus Quadersteinen mit schönen
Gärten, die der Stadt zur großen Zierde gereichten; indeß machten
die gemeinen Häuser nur eine schlechte Figur. Innerhalb der Stadt
zählte man vierzig Kirchen außer der Kathedrale, die auf einem der
höchsten Hügel stand und daher in der Ferne prachtvoll aussah; ein
altgothisches Gebäude, aber inwendig höchst kostbar ausgeschmückt.
Die Stadt hatte nicht weniger als fünf und zwanzig Klöster für
Mönche, achtzehn für Nonnen und etwa hundert und dreißig für
Laien, die Kapellen und Priester hielten. Für die Armen waren
etliche große Hospitäler errichtet. Der königliche Palast gewährte vom
Flusse her einen prächtigen Anblick; er hatte eine sehr Vortheilhafte
Lage, da man aus den Fenstern große Flotten vor Anker und alle
Schiffe sehen konnte, die in den großen Hafen einliefen, oder aus
demselben segelten. Dieser Palast bildete eine Seite von einem
Viereck; daö Zollhaus, die Fleischbänke, der Kornmarkt u. s. w. die
andern Seiten. Auf diesem Platze hielt man die Stiergefechte; auch
verbrannte hier die Inquisition, die auf dem Platze Rosina ihre
Blutgerichte hielt, die unglücklichen Opfer ihrer Verfolgungswuth.
Die Straßen waren ausnehmend eng und etliche sehr steil. Der
vortreffliche Hafen konnte zehn tausend Schiffe fassen und war so tief,
daß die größten Schiffe in achtzehn Klaftern Wasser gerade vor dem
Palaste ganz sicher, auf ihre Anker vertrauend, liegen konnten. Den
Eingang schützten zwei Forts, St. Julian, welches auf's Ufer ge-
baut ist, und Dorre, das auf einem Bollwerke, von Wasser umringt,
steht. Allein die größte Vertheidigung des Hafens war und ist noch
die Barre, oder die Sandbank, welche sich quer vor demselben er-
streckt und allen Schiffen höchst gefährlich wird, die keinen erfahrnen
Lootsen haben.
Das war Lissabon bis aus den Isten November 1755. Frühe
noch eine der schönsten, reichsten und bevölkertsten Städte und Abends
ein Schutthaufen, eine dampfende Brandstätte, ein unabsehbares Lei-
chenfeld. An diesem verhängnißvollen Morgen war der Himmel
heiter und lachend, wiq er es fast immer in den glücklichen Kreisen
des europäischen Süden ist. Kein Lüftchen regte sich, aber sieben
und fünfzig Minuten auf zehn Uhr hörte man es in den Straßen
rollen, gleich als ob Karossen hinab rollten; zugleich bebte die Erde
mit gewaltiger, wogender Bewegung. Es war gerade der Festtag
Allerheiligen, und die Einwohner hatten sich zahlreich in den Kirchen
versammelt, als das Unglück losbrach. Die kurze Zeit von zehn
Minuten war hinreichend, die schönsten Paläste, die prunkreichsten Kirchen
und Privatgebäude in bejammernswürdige Trümmer zu verwandeln,
unter denen Tausende ihren Tod fanden. Gleich bei der ersten Er-