1842 -
Karlsruhe [u.a.]
: Herder
- Autor: Heberling, Joseph Theodor
- Auflagennummer (WdK): 6
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Konfession (WdK): Römisch-Katholisch
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erweken kann. Kaum hat die Schiffsgloke geläutet,
oder vielmehr angeschlagen, so ertönt des Bootsmanns
Pfeife durch den Matrosenraum, und seine heisere
Stimme ruft die Wache hinauf, um ihre Kameraden
abzulösen. Beim zweiten Rufe muß Alles auf den
Beinen sein, und auf dem Verdek, auf dem Vorder-
Casteel *) und am Steuerruder ein Jeder seinen ange-
wiesenen Posten einnehmen. Der Ungestüm zweier Ele-
mente, die fast in unaufhörlicher Bewegung sind, dringt
mit vereinten Kräften auf sie ein. Um sich warm zu
erhalten, laufen sie beständig auf und ab, bis irgend
ein Vorfall sie zur Arbeit ruft. Aendert der Wind
seine Richtung, so werden die Segel nur anders ge-
stellt; steigt aber seine Heftigkeit, so müssen sie theils
eingerefft, theils völlig eingezogen werden. Der
Anblik dieser gefährlichen Verrichtung ist schauderhaft,
wenigstens für jeden, der es nicht gewohnt ist, Menschen
ihr Leben auf's Spiel sezen zu sehen. Sobald die
untersten Zipfel des Segels vom Verdek aus gelöst und
aufgezogen werden, brausen die Winde darein, und
schlagen es an Stange und Mast, daß das ganze Schiff
davon erbebt. Mit bewundernswürdiger Behendigkeit
und nicht geringem Muthe klettern die Matrosen sogleich
bis zur zweiten oder dritten Verlängerung der Masten
hinauf. Dort hangen in starken Tauen die Segelstan-
gen oder Raaen quer über das Schiff; an ihren bei-
den Enden und in der Mitte befestigt, hängt ein schlot-
terndes Seil, welches den Füßen des verwegenen See-
mannes zum Ruhepunkte dient. Auf diesem Seile gehen
sechs bis acht Matrosen hurtig und mit sicherm Tritt
zu beiden Seiten bis an die äußersten Enden der Raa
hinaus, troz dem Winde, der das flatternde Segel ge-
waltsam hin und her schleudert, und das Seil unter
ihren Füßen erschüttert, troz der schwankenden Bewe-
1) Halbes Verdek auf dem Vordertheile des Schiffes.
2) Sin Seqel einreffen heißt: einen Theil desselben über die
Raa (Segelstange) wikeln und festbinden, damit cs klei-
ner werde.