1843 -
Altona
: Schlüter
- Autor: Burgwardt, Heinrich
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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sind Thränen eine große Erquickung, denn sie lindern sein
Leid und mäßigen den Ubermuth seiner Freude.
Jetzt standen sie auf der Höhe, und der Knabe sah die
Landschaft, die er so oft im Schimmer des Tages gesehen hatte,
nun in dem Dämmerlichte des Morgens und in Nebelschleier
gehüllt. „Was ist das?" rief er, „hat eine Wasserfluth die
Thäler überschwemmt?" — „Fürchte nicht," antwortete der
Vater; „das sind die Thauwölkchen, die auch um uns schweben,
nur weniger dicht, weil wir höher stehen. Auch würden sie uns
minder dicht erscheinen, wenn wir mitten darin ständen; in der
Ferne scheint unsern kurzsichtigen Augen Alles weit düsterer, als
es ist, denn wir sehen dann die Massen; in der Nähe aber
verschwindet uns das Meiste, denn wir können die Theilchen
nicht sehen, woraus sie gebildet sind, wie du an den Thauwölk-
chen siehst, die auch uns umgeben, die du doch aber' nur in
ihren Wirkungen wahrnimmst. Dein Leben wird dir noch oft
andere Belege dazu geben.
Bald vergoldeten die ersten Strahlen der Sonne die Spitzen
der Berge. Der Knabe versank sprachlos in dem Anblick der
himmlischen Erscheinung, als sie hervorging über den Bergen,
wie der Bräutigam aus seiner Kammer, und erst des Vaters
Harfe und lauter Gesang: „Lobe den Herrn, meine
Seele! Herr, mein Gott, du bist sehr groß; du
bist schön und prächtig geschmückt. Licht ist dein
Kleid, das du anhast; du breitest den Himmel aus
wie einen Teppich!" — weckte ihn aus seinen Betrachtungen
und gab seinen unaussprechlichen Gefühlen Bewußtsein und
Worte.
Der Psalm war verklungen, aber seine Gedanken und seine
Töne füllten und bewegten noch lange die Seele des Knaben.
Schweigend ruhte er an der Brust des Vaters. Die Sonne
war indeß höher am Himmel heraufgetreten und füllte nun auch
mit Licht und Wärme die Thäler. Da hob sich die Nebeldecke
und regte sich, wie das Meer, wenn ein Morgenlüftchen es kräu-
selt. Theils zerfloß sie in Thau, theils schwebte sie auf unsicht-
baren Flügeln an den Rändern der Berge hin, lösete sich in der
klaren Luft und verschwand, als wäre sie nicht da gewesen.
„Siehe, mein Sohn," sprach der Vater endlich, „hier ein
Bild des menschlichen Lebens, seiner Leiden und Freuden. So
ruht auch auf uns die Wolke des Kummers und der Trübsal.