1832 -
Stuttgart
: Macklot
- Autor: Selchow, Felix
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Inhalt Raum/Thema: Europäische Geschichte
420
so könnte,: du auch Ichon Stangenherr wie ich seyn. Der Stan-
genherr ist nämlich der erste Karrenschieber, den man so nennt,
weil er den Karren vorn zwischen den Stangen zieht.
Vorzüglich zu den trocknen Beschäftigungen des Handels er-
zogen und zeitlebens in denselben befangen, hatte der größte Theil
der Hamburger weder Gelegenheit, noch Zeit, sich zum Bedürf-
niß feinerer Genüsse zu bilden. Das Hauptgeschäft seines Le-
bens ist Erwerben, und wenn er davon ermüdet ist, mir der
möglichsten Bequemlichkeit zu genießen. Da liegen ihm nun zu-
nächst die Freuden der Tafel, und zwar um so mehr, da er in
seiner Stadt so gar viel Anregung dazu findet. In einem frucht-
baren Lande und in der Nachbarschaft zweier Meere, haben die
Hamburger Ucberfluß an Allem, was zu einer köstlich besetzten
Tafel gehört. Die Elbe mit ihren berühmten Lachsen, die Nord-
see mit ihren Hummern und Austern, die Ostsee mir ihren Dor-
schen sind in der Nähe; Holstein liefert das trefflichste Rindfleisch,
Lüneburg sehr vorzügliches Wildpret, und Westphalen seine be-
rühmten Schinken; und Hamburgs ununterbrochener Seehandel
führt ihm Rußlands Kaviar, Westindiens Schildkröten und die
köstlichsten Früchte und Weine aller Weltgegenden zu. Wäre es
unter solchen Umständen den reichen Hamburgern zu verübeln,
wenn sie mit Benutzung ihrer physischen Vortheile sich nur den Ge-
nüssen einer wohlbesetzten Tafel hingeben?
Mit der Thätigkeit im Erwerben und der Liebe zum sinnlichen
Genusse verbinden sie das Gefühl ihres Werthes und ihres Wohl-
seyns, das Bewußtseyn ihrer Rechte und Anhänglichkeit an das
Hergebrachte, bei dem sich ihre Väter wohl befanden. Da nun
aber jedes Ding zwei Namen hat, so werden diese Eigenthümlich-
keiten von manchen Fremden auch zuweilen Gewinnsucht, Geld-
stolz, Schwelgerei, Grobheit und breiter reichsstädtischer Phili-
stersinn genannt. Doch diese Namen kann auch Neid und Miß-
gunst ersonnen haben. Das Roß scharrt und stampft, weil es
Muth und Kraft besitzt; der Hamburger thut breit, weil ihm
wohl ist, und genießt/weil er Sinn und Vermögen dazu hat.
Das Volk zeichnet sieb in seiner Art eben so wie die Vorneh-
men, durch das Bewußtseyn seines Werthes, seines Wohlbefin-
dens und seiner Kraft aus. Von derbem, starkem Knochenbau,
breitschultrig und wohlgenährt, schreitet der gemeine Hamburger
keck und fest einher, und sieht unbefangen dem Senator und dem
vornehmsten Fremden ins Gesicht, ohne an den Hut zu greifen
oder aus dem Wege zu gehen, wenn er ihn nicht kennt, oder in
Geschäften mit ihm steht. Beleidigt man ihn, so schlägt er zu,
ohne Achtung für Glanz und Seide, und weicht Niemanden als
dem Stärkeren. Sein Weib ist das passendste Scitenstück zu
ihm. Die ärmste Obsthökerin strotzt von Blut und Körperfülle.
Wie der Mann durch die Faust, macht das Weib sich durch die
Zunge geltend. Ein Strom der kraftvollsten Schimpfworte und