1. Bd. 4
- S. 13
1846 -
Braunschweig
: Westermann
- Autor: Hermes, Karl H., Rotteck, Karl von
- Auflagennummer (WdK): 13
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1812
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrer- und Schülerbuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Mittelalter
- Geschlecht (WdK): Jungen
- Konfession (WdK): offen für alle
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Charakter dieses Zeitraumes re.
Mit diesem lieb erblicke offenbaret sich uns sowohl der allgmeine Cha-
rakter des gesammten Mittelalters, als der besondere der ein-
zelnen Zeiträume, in die cs natürlich zerfällt. Im ersten (vorliegenden)
Zeiträume bricht im Geleite der wandernden Völker die Nacht der Barbarei
herein *), aber es unterhalten, wenigstens auf klassischem Boden, die gebro-
chenen Lichtstrahlen der untergegangenen Sonne noch einen dämmernden Schein;
während das unter den nördlichen Barbaren sich ausbreitende Christenthum
(in Verbindung mit ihrer edlen jugendlichen Kraft) dieselben vor völliger
Verwilderung sichert, und schöne Blüthen der Humanität durch die Nacht der
folgenden Jahrhunderte rettend auf glücklichere Zeiten bringt. Sonst sehen
wir nichts, als Zerstörung und wieder Zerstörung, Völker auf Völker in be-
täubend schneller Folge über die Bühne rauschend; Reiche plözlich entstehend
und verschwindend, wie Bilder im Zauber-Spiegel; nichts Stätcs, nichts
Beharrliches, woraus der Blick mit Ruhe weile. Die Welt, Europa zumal,
hat keinen Schwerpunkt mehr, Alles fällt durcheinander in regellosem Getüm-
mel Endlich vcrtobt der Sturm; die schwellende Macht des fränkischen
Reiches wird für Europa der neue politische Schwerpunkt (wie schon früher
das arabische Chalisat für Asien geworden), und die zu gleicher Zeit sich fcst-
sezcndcn Verhältnisse des bereits vielfältig verunstalteten Christenthums, zumal
der Hierarchie, verbunden mit der ausgebreiteten Herrschaft des Lehen-
wesens, gebieten den großen Bewegungen Stillstand, und geben fast dem
ganzen Abcndlande eine gleichförmige, über 300 Jahre dauernde Gestalt.
Von Karl M. bis zu den Krcuzzügen (welche die zweite Periode des
Mittelalters schließen) dauerte dieser, im Allgemeinen klägliche, Zustand, den
man die konsolidirte Barbarei, die ganz finstere Nacht heißen kann, bis,
bald nach dem Beginnen jener heiligen Kriege, die ersten Spuren der erwa-
chenden Dämmerung sichtbar werden, und nach Beendigung der Kreuzzüge
(in der dritten Periode des Mittelalters), während in Asien Alles in blei-
benden Schlaf versinket, die freundlich aufsteigende Morgenröthe Europa
einen neuen und heiteren Tag — wiewohl trügerisch — verkündet.
*) Wäre nicht Bar bar ei die Grundlage des Zustandes selbst der germanischen Völker ge-
wesen, wären nicht selbst ihre besten Einrichtungen — ob auch dem einfachen gesunden Men-
schenverstände angemessen — doch der, nur der Weisheit oder höheren Civilisation zugäng-
lichen, Begründung und Vervollkommnung entbehrend gewesen, so würde das Ucbcrhand-
nehmen der politischen und kirchlichen Despotie gar nicht haben stattfinden können.