1. Bd. 1
- S. 85
1860 -
Calw Stuttgart
: Vereinsbuchh.
- Autor: Redenbacher, Wilhelm
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
§ 4. Griechenland in seiner llrzeit.
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Parnaß, hatte das größte Heiligthum im ganzen Lande.
Man entdeckte dort in einer Thalschlucht ein Erdloch, aus
dem ein starker Dampf aufstieg, welcher die daran Hin-
kommenden in Verzückung setzte. Da ste in diesem Zu-
stand sonderbare Reden oder Laute von sich gaben, so
hieß es, der Gott Apollo wolle hier den Menschen
Offenbarungen machen. Es wurde dem Gotte an
der Stelle ein Tempel gebaut und eine zahlreiche Priester-
schaft verordnet, ihm darin zu dienen. Die Hauptperson
unter derselben war aber eine Priesterin, eine alte
Jungfrau, welche immer Pythia hieß. Nun kamen die,
welche gern Zukünftiges wissen wollten, mit ihren An-
fragen. Da wurde die Pythia in's Innerste des Tem-
pels geführt und auf einen über dem Dampfloch ste-
henden, mit Lorbeerzweigeu umwundenen goldenen
Dreifuß gesetzt. Kaum saß sie darauf, so gerieth ihr
ganzer Körper in Zuckungen; ihre Augen verdrehten sich,
ihre Haare stiegen empor; und jetzt gab sie aus schäu-
mendem Munde die Antwort, welche aber nur von den
herumstehenden Priestern verstanden und von ihnen ver-
dolmetscht wurde. Die Pytbischen Aussprüche waren kurz
und gewöhnlich zweideutig, daß man sie hintennach so
und so auslegen konnte. Trotzdem war der Zugang der
Fragenden ungeheuer, auch noch iu spätern Zeiten. Nicht
blos von ganz Griechenland, auch aus dem übrigen Eu-
ropa, aus Asien und Afrika kamen sie, Fürsten, Könige
und Andere; wollten sich alle die verborgene Zukunft ent-
schleiern lassen und namentlich bei ihren wichtigen Unter-
nehmungen erfahren, ob sie gelingen würden. Und brach-
ten Alle zum Dank dem weissagenden Gotte die kostbar-
sten Geschenke mit.
Es gab noch ein sehr berühmtes Orakel in Griechen-
land, das zu Dodona in Epirus. Es gab viele Ora-
kel auf Erden, aber das zu Delphi war doch das
berühmteste in der ganzen Welt, und der dort sich
aufhäufende Reichthum unermeßlich.
Wir haben schon von einem Gotte der Hellenen ge-