1854 -
Weimar
: Böhlau
- Autor: Zeiß, Gustav
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Gymnasium
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Inhalt: Zeit: Mittelalter
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Auch im südlichen Europa mußten sich die früheren natürlichen
Wege des Völkerverkehrs, zumal innerhalb des so unmittelbar an
einander gewiesenen Handelsgebietes des mittelländischen Meeres,
wieder öffnen. Die Annäherung des griechischen Kaiserthums an
das westliche Europa traf zunächst Italien, das seiner Lage nach
benachbarte und durch das Exarchat von Ravenna eine Zeit lang
auch politisch mit Constantinopel vereinigte Land. Sehr dunkel ist
der Anfang des italienischen Handels. Er begann wahrscheinlich
mit Küstenfahrt westlich nach Frankreich und östlich nach den byzan-
tinischen Provinzen am adriatischen und ionischen Meer. Der so-
lidere Bau der Schiffe und die größere Schifffahrtskunde, welche
die Italiener damals vor den Griechen voraus hatten, veranlaßten
weiteren Fortschritt. Auf den Inseln der Lagunen hatten die vor
Attila geflüchteten Bewohner des Festlandes 452 Venedig gegrün-
det (S. 93). Da die Meereswoge die Schwelle der Häuser be-
spülte und auf dem öden Sandboden der Inseln kaum eine Pflanze
keimte, so wurden Schifffahrt und Handel nothwendig zur Erhal-
tung des Lebens. Fischfang und Erzeugung von Seesalz waren
die ersten Beschäftigungen. Die Fischereien waren eine Pflanzschule
trefflicher Matrosen und lieferten nebst den Salinen dem Handel
mit dem Festlande Gegenstände, welche dieses mit seinen Produk-
ten erwiederte. Die Sicherheit der Inseln in der allgemeinen Ver-
wirrung lockte Kolonisten herbei, und die Inseln bevölkerten und
bereicherten sich schnell. Während Italien das Bild allgemeiner
Verwüstung darbot, erschienen diese Inseln des adriatischen Meeres
wie eine Oase inmitten der Wüste. Eine demokratische Verfassung
mit vollziehender Gewalt der Tribunen verband sie zu einem poli-
tischen Gemeinwesen, welches der freien Energie keinerlei Fesseln
anlegte. Zur Zeit Theodorichs stand Venedig bereits fest genug,
um der drohenden Konkurrenz Ravenna's die Spitze bieten zu kön-
nen. Die Venetianer fuhren bereits durch das ganze adriatische
Meer bis zu den griechischen Kflstenplätzcn. So entstanden ihre
ersten Berührungen mit den Griechen. Diese erweiterten und be-
festigten sich, als Justinian durch seine Feldherrn Belisar und Nar-
ses das ostgothische Reich zerstörte; dabei leisteten ihm die Venetia-
ner mit ihrer Flotte Beistand, und die Griechen bewilligten den
Venetianern vielfache Handelsvortheile.
Frühzeitig bildete sich die venetianische Staatskunst aus, durch
rücksichtslose Benutzung günstiger Umstände Gewinn zu machen.
Immer deutlicher trat dies hervor, als gegen das Ende des sieben-
ten Jahrhunderts sämmtliche Inseln, von denen bisher jede ihren
Tribun hatte, übereinkamen, ein gemeinschaftliches Oberhaupt, einen
Dogen, zu wählen. Blieb auch die Regierungsform republikanisch,
so war doch die Einheit gewonnen. Der Gedanke einer See- und
Handelsherrschaft gelangte mehr und mehr zur Klarheit und wurde
das Ziel des Strebens. Indeß ging die Entwickelung langsam.
Karl dem Großen verstanden die Venetianer sich verbindlich zu
machen, und der Kaiser erkannte die Unabhängigkeit der Republik
an und verlieh ihr ein Handelsprivilegium für die italienischen Lande.
Als Karl der Große die Kaiserkrone auf sein Haupt setzte, hatte
Italien die barbarischen Einflüsse glücklich überwunden und stand