1854 -
Weimar
: Böhlau
- Autor: Zeiß, Gustav
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Gymnasium
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Inhalt: Zeit: Mittelalter
- Geschlecht (WdK): Jungen
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zu ihnen. Die Franzosen eigneten sich wohl die Formen der pro-
venzalischen Poesie an, sie besaßen aber nicht das warme Gefühl
und die glühende Phantasie der provenzalischen Troubadours; in
ihren besten Gesängen läßt ein kalter Ton die Nachahmung empfin-
den. Der berühmteste lyrische Dichter dieser Zeit ist Thibaut,
König von Navarra.
Während Romane, Chansons und andere Gedichte in großer
Zahl in französischer Sprache verfaßt wurden, bediente man sich
doch in der Wissenschaft, auf der Kanzel und im Gerichtssaale der
lateinischen Sprache. Man betrachtete die volksthümliche Prosa
nur als ein Mittel, sich im Umgänge des Privatlebens verständlich
zu machen. Die Entwickelung der französischen Sprache ist aber
der der anderen Sprachen lateinischen Ursprungs vorangegangen.
Der klare Verstand, die gesellige Gewandtheit und vielleicht auch
die Leichtfertigkeit der Franzosen haben sie frühzeitig von dem
Uebergewicht befreit, welches ein überliefertes und dem Leben
fremdes Wissen in der Bildung aller anderen neueren Völker
lange behauptet hat. Wilhelm der Eroberer drang die französische
Sprache den Rechtsgelehrten und selbst der Geistlichkeit Englands
auf, und im 13. Jahrhundert sprach man sie an allen Höfen. Die
französische Prosa stand bereits im 13. Jahrhundert unter dem Ein-
flüsse des Lebens und nicht der Schule. Die ersten französischen
Prosaiker, die einen ehrenvollen Platz in der Literatur behaupten,
sind nicht in Klöster eingeschlossene Gelehrte, es sind Ritter und
Staatsmänner, welche schreiben was sie während eines bewegten
Lebens gesehen, gefühlt und gethan haben. Die ersten Meisterwerke
der französischen Prosa sind Memoiren, d. h. historische Erzäh-
lungen, welche die Ereignisse so darstellen, wie der Verfasser sie
gesehen hat, ohne auf gelehrte Genauigkeit Anspruch zu machen.
Zwei Werke dieser Art aus dem 13. Jahrhundert geben uns ein
treueres Bild von dem Leben der Zeit als alle lateinischen Chroni-
ken. Das erste dieser Werke ist die Chronik von der Eroberung
von Constantinopel von Geoffrey de Villehardouin, das andere die
Geschichte Ludwig's Ix. von des» Lire de Jomville.
Bei dem allgemeinen Aufschwung erhob sich auch der deutsche
Adel zu feinerer Sitten- und Geistesbildung. Während im 11.
Jahrhundert deutscher Gesang nur unterm niederen Volke, in den
Klöstern nur deutsche Prosa und lateinische Dichtung und selbst am
Hofe nur letztere zu finden war, ließ sich im 12. Jahrhundert an
den Höfen und in Klöstern deutsche Dichtung vernehmen. Die
Geistlichkeit nahm einen größeren, der Adel einen neuen Antheil an
der deutschen Literatur. Die Vorliebe für den Reim bewirkte die
Ausbildung desselben zur Form der Poesie und das Zurücktreten der
Prosa. Zu dem bisher allein üblichen Singen kam nun auch ein
davon verschiedenes Sagen, ein bloßes Lesen der Gedichte. Die
Geistlichen trugen einander und den Laien Stoffe der ihnen zunächst
angemessenen Gattung vor, religiös und sittlich belehrende und ge-
lehrt erzählende nach lateinischen Duellen, bis sie und noch mehr die
Ritter nach französischen Epopöen griffen und diese in deutscher
Sprache nachahmten. Es waren das keine Lieder mehr, sondern
Die deutsche
Literatur.