1858 -
Weimar
: Böhlau
- Autor: Zeiß, Gustav
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Gymnasium
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): Jungen
155
schützende Gesetz mußte sich weiter ausdehnen. Man erhob sich zu dem
Begriffe des Bürgers, in dem alle Mitglieder des Staates aufgingen.
Damit waren die alten Zustände unvereinbar. Die Erfindung des Pul-
vers, des Bücherdruckeß, die Erneuerung der Wissenschaften, der Fall von
Konstantinopel, die Entdeckungen der Seefahrer u. s. w., alles dieses trieb
zu einer rastlosen Thätigkeit. Durch alles dieses ward das Ritterthum
in den Grundbedingungen seines Bestehens angegriffen. Die Intelligenz
tritt an die Spitze der Kultur und des Lebens. Nicht die Dichtkunst war
das Bedürfniß der Zeit; die Reform mußte den Weg der Erkenntniß, der
Wissenschaft einschlagen. Dies rief die Jahrhunderte der Prosa hervor,
und die eleganten Verse der Humanisten sind das Wenigste, mit dem sie
für die deutsche Literatur wirkten; ihr wahres Verdienst bestand in ihrer
Betheiligung an der Reformation in Wissenschaft, Staar und Kirche.
Zwar werden gerade jetzt auch neue Dichtungsgattungen ausgebildet,
aber dieses sind die mannigfachen Sprößlinge der didaktischen Poesie,
und eben diese treten mit der Prosa hervor. Wie immer, wenn eine
neue Zeit mit der alten in Kampf gerätst, blüht die Satire mächtig empor.
Die Bildung der deutschen Prosa ist Luthers Werk. In
Folge der Bibel-Uebersetzung Luthers hat ein deutscher Dialekt die übri-
gen aus der Literatur verdrängt und die Nation ein Buch voll Muster
der Behandlung aller Gattungen der Poesie und Prosa erhalten. Luther
schuf für den protestantischen Theil der Nation, da für diesen seine Bibel
ein Volksbuch wurde, eine Sprache und eine Art geistlicher Bildung,
welche man bei den Anhängern des alten Glaubens nicht findet, da bei
diesen ein jeder in seinem nicht ausgebildeten Dialekt oder in der Sprache
seiner Kirche schrieb. Luthers Streit- und Flugschriften wirkten auf das
ganze Volk. Seine Predigtsammlungen, seine Einleitungen und Aus-
legungen biblischer Bücher, seine Trostschriften und seine Briefe sind Denk-
mäler von der rastlosen Thätigkeit des großen Mannes, den die Geschichte
der deutschen Sprache und Literatur eben so an die Spitze einer neuen
Periode stellt, wie die Geschichte der Nation und der Kirche. Die Folge
der Reformation für die Literatur war, daß sie vorzugsweise eine theo-
logisch-didaktische und theologisch-polemische wurde. Die Predigt erhielt
durch Luther eine viel größere Bedeutung für den Gottesdienst. Aus
der nächsten Zeit vor Luther ist Johann Geiler, genannt von Kei-
sers be rg, als Prediger und Verfasser von Erbauungsbüchern zu nennen.
Er war Prediger zu Straßburg und schrieb im elsasser Dialekt. Sein
Stil ist herzlich und kräftig, volksmäßig und derb. Die Predigt der Re-
sormationßzeit wurde gehoben von der Glaubensinnigkeit und Begeisterung
der Zeit. Luther gab treffliche Muster, und selbst die besseren Prediger
seiner Zeit blieben hinter ihm zurück. Nach Luther sank die Predigt, da
der freie protestantische Geist dem Sektengeist und der Streitsucht der
Theologen wich. Ueber diese Polemik erhob sich Johann Arndt
(1555—1621), dessen „Vier Bücher vom wahren Christenthum"
in Zeiten, wo das religiöse Leben durch den übertriebenen Eifer der Or-
thodoxie erstarrte, für Tröstung und Erhebung der Gemüther trefflich ge-
wirkt haben. Gelehrte Werke in deutscher Sprache erregten ein Vorurtheil
gegen ihren Verfasser und gegen ihren Gehalt. Nur für das Volk be-
stimmte Schriften wie die Auslegungen deutscher Sprichwörter
von Johann Agricola und ein ähnliches Werk von dem Wiedertäufer