1858 -
Weimar
: Böhlau
- Autor: Zeiß, Gustav
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Gymnasium
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): Jungen
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übertragen. Wie früher der Mittelstand über Privilegirte und die Re-
gierung den Sieg davon getragen hatte, so war nun die Herrschaft
über den Mittelstand an den Pöbel gekommen. Alle Gewalt
besaß nun der Gemeinderath von Paris und die Nationalversammlung,
Auf das Gesimse der Loge sich stützend, hörte Ludwig, ohne eine
Miene zu verändern, den Verhandlungen zu. Neben ihm saß die Köni-
gin, den Dauphin auf dem Schooße. Bei furchtbarer Hitze und gänz-
lichem Mangel einer Erfrischung in ein kleines Gemach eingeschlossen,
mußte die königliche Familie die gegen sie ausgestoßenen Vorwürfe,
Schmähungen und Drohungen anhören. „Alles heute vergossene Blut,
alles Elend des Landes verdanken wir dem Meineid und der Treulosig-
keir jenes Verräthers," sagte der ehemalige Kapuziner Ch ab o t und wies
dabei auf den König. Nach sechzehn qualvollen Stunden wurde die kö-
nigliche Familie in ein kleines, an den Saal der Versammlung ansto-
ßendes Zimmer zur Nachtruhe geführt, aber am folgenden Morgen um
neun Uhr wieder in ihr enges Gefängniß gebracht. So blieb es drei
Lage. Am 13. August Nachmittags wurde der König und seine Familie
in zwei Wagen nach dem Tempelthurm geschafft, der vor einem hal-
den Jahrtausend den Templern zum Gefängnisse gedient hatte. Zuerst
hatte die Nationalversammlung beschlossen, daß dem Könige der Palast
Luxemburg und 500,000 Franken angewiesen werden sollten; aber der
Gemeinderath, welcher jetzt alle Gewalt besaß, hatte gegen diesen sowie
gegen einen zweiten Beschluß Einspruch erhoben, daß der König einst-
weilen den Palast des Justizministers bewohnen solle.
Die Nationalversammlung ließ eine weitläufige Rechtfectigungs-
schrift des blutigen Tages und des Verfahrens gegen den König auf-
setzen und diese durch Commissarien in die Departements und zu den
Armeen bringen. Frankreich hatte damals vier Armeen. Der Befehls-
haber der einen derselben, der Ardennenarmee, war La Fayette, und
dessen Hauptquartier Sedan. Als La Fayette Kunde von den Vorfällen
in Paris erhielt, versammelte er die Verwaltungsbehörde des Ardennen-
departements und befahl ihr, die Commissarien der Nationalversammlung,
die kein gesetzliches Dasein mehr habe, verhaften zu lassen. Auch erließ
er einen Tagesbefehl an seine Armee, der mit der Frage schloß, ob sie
den rechtmäßigen König in seine Rechte einsetzen oder Petion zum Kö-
nige haben wolle. Der erste Eindruck schien den Absichten La Fayette's
zu entsprechen. Auch der Oberbefehlshaber der flandrischen Armee, Ar-
thur Dillon. hatte einen ähnlichen Tagesbefehl erlassen. Hätte sich
La Fayette auf der Stelle in Marsch gesetzt, vielleicht wäre es ihm ge-
lungen, die Nationalversammlung und den König von ihren Tyrannen
zu befreien. Aber schon am folgenden Tage weigerten sich die Solda-
ten. den Eid der Treue für die Nation, das Gesetz und den König zu
erneuern, und bezeigten ihre Unzufriedenheit mit der Verhaftung der
Commissarien. Auch wurde es bekannt, daß der General-Lieutenant
Dumouriez sich gegen Dillon erklärt und dessen Armee unter sein
Commando gezogen habe. La Fayette's Lage wurde so mißlich, daß er
bedacht sein mußte, sich und seine Freunde zu retten. Mit einem Theile
seines Generalstabes ging er in der Nacht zum 19. August über die nie-
derländische Grenze, um sich durch Holland nach England und von da
nach Amerika zu begeben. Er wurde von den Oestreichern angehalten