1878 -
Danzig
: Verlag und Druck von A. W. Kafemann
- Hrsg.: Krueger, Karl A., ,
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
Das Erzgebirge.
189
106. Das Erzgebirge.
Das Erzgebirge ist der größte und volkreichste Theil des Königreichs
Sachsen. Hier erheben sich die meisten und höchsten Berge; hier sind die
größten Waldungen; hier ist der Born der meisten größeren Flüsse; hier ist
das Vaterland des sächsischen Bergbaues, der Bergfabriken des Klöppel-
wesens, zum Theil auch der Baum- und Schafwollenweberei und der Holz-
waarenarbeiten; hier ist der größte Reichthum in und oft die größte Armut
über der Erde. Die Fälle sind nicht selten, daß, während Mutter und
Tochter am Klöppelsacke sitzen, tief darunter Vater und Söhne als Berg-
knappen arbeiten.
Vom meißner und leipziger Kreise steigt das Land allmälig an, erhebt
sich wellenförmig in stetem Wechsel von Berg und Thal bis zu den höchsten
Punkten an Böhmens Grenze und ist reich an Naturschönheiten aller Art,
aber auch an Gegenden, wo nur düstere Wälder und kahle Bergrücken dem
Auge siöy darstellen, wo kein Singvogel nistet und nur selten eine Biene
summt, weil sie den Rauch der Hammer- und Schmelzhütten flieht, wo keine
Rebe prangt, wenig Obst und selten Korn gedeiht, und wo gewiß Unzählige
sterben, die nie einen Pfirsichbaum oder Weinstock gesehen haben.
Umfangreiche Waldungen, neben welchen es auch nicht an Torf- und
Steinkohlenlagern fehlt, decken besonders die höheren Gegenden. Des Bo-
dens wellenförmige Gestalt und meist zu steinreicher Gehalt erschweren
Feld- und Gartenbau, und rauhes Klima vereitelt in den höchsten Gegenden
nicht selten die größten Anstrengungen des Landmannes. Der Felder bester
Segen sind Hafer, Lein und Erdäpfel. Letztere sind die wahre Brodfrucht
des Erzgebirges, welche oft nur mit Salz, seltener mit Butter oder Leinöl
des Armen Morgen-, Mittag- und Abendbrod ist. Ohne Getreidezufuhr aus
Böhmen und den angrenzenden Provinzen würde der arme Erzgebirger oft
hungern müssen, obgleich er mit unglaublicher Anstrengung der Erde gleich-
sam abzuzwingen sucht, was sie ihm versagt. Beraabhänge bepflügt er, die
der Niederländer kaum beklettern kann; Gras mäht er auf Höhen, wo ein
Fehltritt ihn verunglücken läßt- Heu holt er mitten im Sommer auf
Schlitten, wo er mit Wagen nicht fortkommen kann. Mit großer Geduld
sammelt er Steine von den Feldern, und doch wird ihm meist nur eine
dürftige, oft gar keine Ernte zu Theil.
Den Erzgebirger charakterisiren Zufriedenheit mit Wenigem, Treu-
herzigkeit und Geradheit im Umgänge. Ganz besonders eigen sind ihm
Fleiß und Sinnen auf Erwerb, wozu ihn die Natur gleichsam spornt; denn
fast jede Gabe läßt sie nur mit Mühe und Gefahr sich abgewinnen. Sogar
das Gesten erschwert sie ihm. Kaum viertelstündig sind die Ebenen, und
das Steigen und Klettern nimmt kein Ende. Mühsamer wird nirgends
der Landbau betrieben, und frühzeitiger wohl nirgends die Jugend zur
Arbeit angehalten. Mit dem 5. bis 6. Jahre schon hilft das Kind ver-
dienen, in der Klöppelstube, wie am Spinnrocken und in der Hütte. — Eigen
ist ferner dem Erzgebirger, gleich dem Tproler und Savoyarden, das ge-
werbsteißige Wandern in ferne Gegenden und die doch ewig lebende Sehn-
sucht nach den Bergen und Thälern der Heimat. Den Strichvögeln gleich,
ziehen aus manchen Gegenden auch im Frühjahre Hunderte mit Bändern,
spitzen, Blechwaaren u. s. w. in alle Länder deutscher Zunge. Zum
Winter aber kehrt fast alles heim, um, nicht selten in verschneiter ärmlicher
Wohnung, den sauer erworbenen Verdienst mit Weib und Kind zu verzehren.
Nebel, welche die letzten Häuser kaum erkennen lassen und oie höchstens
in der Mittagsstunde weichen, kündigen dem Erzgebirger den Winter an,
der ihm gewöhnlich in der fürchterlichsten Gestalt erscheint; denn wochenlang