1878 -
Danzig
: Verlag und Druck von A. W. Kafemann
- Hrsg.: Krueger, Karl A., ,
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
326
Bilder aus Amerika.
sollte; von diesen retteten sich nur wenige einzelne; die andern lagen unter
dem Schutt vergraben, in den sich das große Gebäude so plötzlich ver-
wandelt hatte. Neun Zehntheile der großen Stadt Caracas waren gänz-
lich zerstört. Die Häuser, welche nicht einstürzten, waren so zerrissen, daß
sie nicht mehr bewohnt werden konnten.
Die Nacht vom grünen Donnerstage auf den Charfreitag bot den
Anblick eines grenzenlosen Elends dar. Beim Einsturze der Stadt hatte
sich eine finstere, dicke Staubwolke erhoben und die Luft gleich einem dicken
Nebel erfüllt und verfinstert. Gegen Abend schlug sich der Staub zur
Erde nieder, und die Luft wurde wieder rein; oie Erde war wieder fest
und ruhig und die Nacht so stille und schön, wie je zuvor. Der fast volle
Mond leuchtete, und die ruhige, heitere Gestalt des Himmels bildete einen
furchtbaren Abstich gegen die mit Trümmern und Leichen bedeckte Erde
und den namenlosen Jammer der Menschen. Mütter trugen die Leichen
ihrer Kinder im Arme, durch die Hoffnung getäuscht, sie wieder ins Leben
zu bringen. Jammernde Familien durchzogen die Schutthaufen, um einen
Bruder, einen Freund zu suchen, dessen Schicksal unbekannt war, und den
man im Gedränge verloren glauben konnte. Alles Unglück, welches in den
großen Jammerscenen von Lissabon, Messina, Lima und Riobamba war
erlebt worden, wiederholte sich an dem Schreckenstage des 26. März 1812.
Die unter dem Schutte begrabenen Verwundeten riefen die Vorbei-
gehenden laut flehend um Hilfe an; über 2000 wurden hervorgezogen. Nie
hat wohl das Mitleid sich rührender und erfinderischer gezeigt, als in den
Anstrengungen, welche gemacht wurden, um den Unglücklichen, deren Seufzer
man hörte, zu Hilfe zu eilen. Es mangelte gänzlich an Werkzeugen zur
Hinwegräumung des Schuttes, sie waren mit verschüttet; man mußte sich
also der Hände zur Hervorqrabung der Unglücklichen bedienen. Die Ver-
wundeten sowohl, als auch die aus den Hospitälern Geretteten wurden
ans Gestade des kleinen Guharaflusses gelagert. Hier konnte der Schatten
der Bäume allein dem Menschen Obdach gewähren. Die Betten, die
Leinewand zum Verbände der Wunden, chirurgische Werkzeuge, Arzneien,
alle Gegenstände der ersten Bedürfnisse waren unter dem Schutte begraben.
In den ersten Tagen mangelte alles, sogar Nahrungsmittel. Auch das
Wasser war im Innern der Stadt selten geworden. Die Erdstöße hatten
theils die Brunnenleitungen zerschlagen, theils waren durch das eingestürzte
Erdreich die Quellen verstopft. Um Wasser zu bekommen, mußte man an
den Guharafluß hinabsteigen, wo es wieder an Gefäßen zum Schöpfen fehlte.
Die Bestattung der Todten war sowohl durch Religion, als durch die
Sorge für die Gesundheit geboten. Es war jedoch unmöglich, so viele
Tausende zu bestatten, und deshalb wurden Kommissarien verordnet, die
für die Verbrennung zu forgen hatten. Mitten zwischen dem Schutte der
Häuser wurden Scheiterhaufen für die Todten errichtet und dieses traurige
Geschäft dauerte mehrere Tage. Unter diesem allgemeinen Jammer vollzog
das Volk die religiösen Gebräuche, mit welchen sie am ehesten den Zorn
des Himmels zu besänftigen hofften. Einige stellten feierliche Processionen
an, bei welchen sie Leichengesänge ertönen ließen. Andere, von Geistes-
verwirrung befallen, beichteten laut auf der Straße. Es ereignete sich in
Caracas, was in der Provinz Quito nach dem schrecklichen Erdbeben vom
4. Februar 1797 geschehen war. Rückerstattungen wurden von Leuten ver-
heißen, die niemand eines Diebstahls beschuldigt hatte; Familien, die lange
in Feindseligkeit mit einander gelebt hatten, versöhnten sich im Gefühle
gemeinsamen Unglückes. A. v. Humboldt.