1868 -
Halle
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Masius, Hermann
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Lesebuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): Jungen
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auf meinem weißen Seidenftrumpf am linken Bein. — „Hilf Himmel!"
seufzt' ich bei mir; „was wird die große Gesellschaft sagen?"
Die Thür des Zimmers geht auf. Ich steifer, hölzerner Bursch will
mich gar gewandt und galant, zierlich und leichtfüßig stellen, hüpfe in
den großen Saal hinein; mache Bücklinge hinten und vorn, kratze mit
den Füßen links und rechts aus, sehe gar nicht, daß dicht vor mir eine
Weibsperson steht, die im Begriff ist, eure Pastete zum Tisch hinzutragen;
fahre ihr mit dem Kopf in den glücken, daß die kostbare Pastete von
der Schüssel auf den lieben Erdboden führt, und so spaziere ich mit
meinen Conrplimenten und Reverenzen blindlings vorwärts, — es war
mir zu Muth, als stand' ich in einer Bataille vor dem Feind und sollte
in's Feuer rücken.
Welche Complimente die große Gesellschaft um nrich lierunr nrachte,
weiß ich nicht; denn ich hatte noch nicht den Muth aufzusehen, sondern
fuhr wie besessen mit Kratzfüßen, Bücklingen und gehorsamen Dienern
um mich herum fort, bis "ein neues Unglück meiner Höflichkeit Ziel und
Grenzen steckte.
Ich war nämlich bei meinem eifrigen Complimentiren mit den
Füßen bis zur Pastete avancirt, die noch da lag, weil sich die Magd
von ihrem Schrecken noch lange nicht erholt hatte und mit starren Augen
auf das Meisterwerk der Kochkunst am Boden hinblickte, ohne es auf-
zunehmen.
Da fährt bei einem neuen Eompliment mein tintebefleckter Fuß in die
Pastete, — ich sah nichts; denn mir war vor Höflichkeit Alles blau vor
den Augen geworden. Ich glitschte in dem Pastetenteige schmählicher,
doch höchst natürlicher Weise aus, verliere mein persönliches und politi-
sches Gleichgewicht und falle, so lang ich bin — und ich messe fünf Schuh
sieben Zoll — auf die Erde, zum nicht geringen Schrecken und Gelächter
einer ganzen, großen, ehrenwerthen Gesellschaft.
Im Fallen riß ich noch zwei Stühle mit nieder, an denen ich
mich halten wollte; und ein junges, artiges Frauenzimmer, das sich
auf einem derselben vermuthlich niederlassen wollte, lag eben so schnell,
als ihr Stuhl, neben mir am Boden. — O Himmel, und das war
mein Bärbeli!
Es erhob sich nun ein entsetzliches Zetergeschrei, und ich am Boden
schrie auch; denn da ich neben mir an der Erde, außer zwei Stühlen,
noch ein Frauenzimmer liegen sah, glaubte ich fest an ein starkes
Erdbeben.
Zum höchsten Glück war es kein Erdbeben, das diesen erbärmlichen
Fall verursacht hatte, sondern nur, wie gesagt, eine Kälberpastete.
^ Wir standen auf. Der Vetter machte aus der ganzen Sache einen
Spaß. Er aber hatte gut spaßen. Ich hätte weinen mögen und schäinte
mich fast todt. Ich stellte mich an den Ofen und sagte kein Wort zu
meiner Entschuldigung, sondern, weil Alles um mich herum lachte und
kicherte, lacht' ich auch und sah nur verstohlen nach der zerschmetterten
Kälberpastete.
Man mußte sich endlich zu Tisch begeben. Der Herr Vetter war so
galant, mich neben Bärbeli zu setzen. Ich wäre lieber neben einem feuer-
speienden Berge gesessen, als neben diesem schönen, guten Kinde. Denn
es ward mir wunderlich zu Muthe neben meiner künftigen Hochzeiterin. —
^ch sah die große Gesellschaft am Tische nur sehr flüchtig an.