1868 -
Halle
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Masius, Hermann
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Lesebuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Darin braust und brandet es, da kocht es auf und schäumt und don-
nert bervor. — Aber näher heran bilden die Felsen einen zweiten, grö-
ßeren Kreis; über diesem hängt der lustige Balkon, auf dem du stehst.
Auf deinen Stock gestuft schaust du hinab, und unter dir fünfhundert
Fuß tief bricht der Strom hervor. Der schäumige Schnee schmilzt von
seiner Brust, ersieht zu dir auf mit hellen, rollenden Augen, und rauscht
in seinen blaugrünen, prächtigen Gewändern dahin, erlöst und neu
geboren, in siegesftolzer Freiheit, welche keiner menschlichen Gewalt sich
beugt. — Man schreitet zurück und eilt von Neuem vorwärts; der Blick
hängt sich an diese Zacken und Zinnen. an jeden wilden Busck in der
Tiefe, an den Vogel, der ängstlich entflieht; er folgt dein Steine oder
Baumstamme, den der Führer in den Abgrund schleudert, wo er nach
langein Falle tausendfach zersplittert; es ist. als zöge eine dämonische
Gewalt uns selbst hinab in das brausende Element.
Es begann zu dämmern, als wir vom Riukan zurückkehrten. An
einer einsamen Hütte zwischen den Klippen saß ein Kind, kaum ein Jahr
alt und fast nackt, auf seinem Stühlchen. Mit den großen, blauen Augen
sah es die freniden Männer furchtlos an; die blonden Löckchen hingen nur
seine Stirn so dicht, wie an Engelsbildern. Wir sahen in die Hütte, sie
war leer. Fast gar kein Geräth stand darin, nur im Wiiikel ein ärmliches
Lager. Das Kind saß einsam, und neben ihm ging es in die finstere
Tiefe hinab, wo der Tod auf verirrtes Leben lauert. — Wir legten ihm
Geldstückchen in die kleine Hand; es sah sie gedankenlos an uiid schloß
die Finger. Aber die Eltern werden kommen, das Kindchen herzen und
sich des unverhofften Segens freuen. Th. Mllgge.
63. Konstantinopel.
Stambul ist einer großen Blume vergleichbar, auf drei Seiten
von einein rauhen, unscheinbaren Kelchblatt umgeben, mit welchem es
an den Felsgestaden Rumeliens hängt., während es der aufgehenden
Sonne und den großen, glänzenden Spiegeln, die zwei Meere vor ihm
ausbreiten, das schöne, glühende Antlitz zuwendet. Vor dieses muß man
treten und tief in die königlichen Züge schauen, um jenes Wort Byrons
wahr zu finden,-der in begeisterter Erinnerung an die Herrlichkeit der
Osmanenstadt ausruft: ,„Ich sah Athens geheiligte Räume, Ephesus'
Tempel sah ich und war in Delphi, ich habe Europa durchstreift von
einem Ende zum andern und Asiens schönste Länder besucht; aber nie
erfreute mein Auge ein Anblick, dem von Konstantinopel vergleichbar."^
Das kleine leichte Boot trägt uns spielend aus dem Hafen nach
dem gegenüberliegenden Gestade von Kleinasien; auf einem andern Welt-
theile muß man sich niederlassen. um das großartige Bild, das sich hier
vor den erstaunten Augen entfaltet, mit seiner ganzen Schönheit in's
Herz aufzunehmen.^
Wie Rom ist Konstantinopel auf sieben Hügeln erbaut, / deren
Abgrenzung man deutlich erkennen kann. .> Sie bilden ein unregelmäßiges
Dreieck; aber nur die eine Spitze desselben ist uns sichtbar: das soge-
nannte neue Serail mit seinen buntverzierten Gebäuden, Palästen und
Kiosks. Zwischen denselben sieht man Wälder von Orangen, große
Platanen und schlanke Cypressen./welche die farbigsten Schatten über
diese ungeheure Wohnung der Sultane werfen. Hinter dem neuen