1868 -
Halle
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Masius, Hermann
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Lesebuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Da kracht ein Balken. Ein furchtbarer Schreckruf! Nach eine marter-
volle Minute! Noch eine! Der Dachboden senkt sich nach einer Seite,
ein neuer Fluthenberg schäumt herauf und — im Sturmgeheul verhallt
der letzte Todesschrei. Die triumphirenden Wogen schleudern sich einan-
der Trümmer und Leichen zu.
Dennoch liebt der Halligbewohner seine Heimath, liebt sie über
Alles, und der aus der Sturmfluth Gerettete baut sich nirgends sonst
wieder an als auf dem Fleck, wo er Alles verlor, und wo er in Kur-
zem wieder Alles und sein Leben mit verlieren kann.
Wir bewundern den Sohn der afrikanischen Wüste, der sein Zelt
aufschlägt unter der Gluth einer versengenden Sonne, in der Mitte einer
unübersehlichen, brennenden Sandstrecke. Er hat doch ein weites Gebiet,
das er nach allen Richtungen hin auf seinem flüchtigen Renner durch-
streift. Er hat doch seine Oasen, wo er im Schatten der Palme die
Quelle sprudeln hört und Lieder singt zur Ehre der Wüste, oder den
wunderreichen Erzählungen des vielgereisten Karavanenführers horcht.
Die Heimath, die er liebt, ist doch nickt ohne Abwechselung, sein Leben
nicht ohne Veränderung. Er schleppt sich nicht hin in steter Einförmig-
keit des Daseins, findet doch Raum für seine Kraft, und hat doch Fer-
nen, denen der Reiz der Neuheit nicht ganz fehlt. Der Halligbewohner
übersieht mit einem Blick alle seine nahen Grenzen; sein Thun und Trei-
den ist dasselbe einen Tag wie den andern, außer daß eine seltene Fahrt
ihn zum Verkauf der Wolle seiner Schafe nach dem festen Lande führt;
und er fühlt sich bei seiner Abgeschiedenheit vorn Menschenverkehr fremd
unter Menschen, sobald er seine Scholle im Meere nothgedrungen ein-
mal verlassen hat. Alle seine Freuden und Genüsse bleiben wie seine
Arbeiten in einem kleinen Umfang beschränkt, ohne lebhaften Reiz, ohne
die Spannung einer Ungewöhnliches erwartenden Aussicht. Ein bei der
geringen Zahl der Bewohner oft erst nach Jahren auf der Hallig wie-
derkehrender Hochzeitstanz gehört zu seinen höchsten Vergnügungen.
Die Gefahren selbst, denen der Halligbewohner ausgesetzt ist, ent-
behren den einzigen Reiz, den die Gefahr haben kann: den Gegenkampf.
Mag der Sand der Wüste, voni Sturm aufgewirbelt in dicken Wolken,
als sollte das Gewölbe des Himmels auch eine Sahara werden, daher
jagen und Zeltdörfer und Karavanenzüge in sein heißes, erstickendes Bett
begraben : die Möglichkeit der Flucht ist doch gegeben, und die Menschen
versuchen auf Rossen und Kameelen mit dem Sandsturm in die Wette
zu jagen, und oft gelingt es ihnen, dem drohenden Verderben zu ent-
gehen. Der Halligbewohner hat seinen Feind rund um sich; erhebt der
sich in seiner schauervollen Macht, so muß er, hülfloser als ein Kind
auf dem Wege des tobenden Stieres, sich diesem Gewaltherrscher hingeben
und zitternd erwarten, ob er mitleidig schonend vorüberziehe, oder in blin-
der Wuth Alles niederwälze, er muß Leben oder Tod als ein willenloses
Schlachtopfer annehmen, ohne Hand oder Fuß zur gleicherweise unmöglichen
Gegenwehr oder Flucht zu regen. Verstand und Kraft sind ihm unnütz,
nur Ergebung ist sein Loos in dem vollen Bewußtsein seiner Ohnmacht.
Und nicht etwa die Unbekanntschaft mit den Vorzügen anderer Län-
der ist es, was dem Halligbewohner seine Heimath lieb macht. Nein,
er hat die fruchtbarsten, reichsten Strecken vor seinen Augen. Hinter den
Deichen des festen Landes in seiner Nähe ist ein Boden, der seinen
Bewohnern einen Ueberfluß bietet, wie wenige Länder der Erde ihn