1861 -
Hanover
: Rümpler
- Autor: Colshorn, Theodor, Goedeke, Karl
- Sammlung: Lesebuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
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wenn er sie am Rande derselben überraschen kann. Der gefähr-
lichste Feind der Gemse ist aber der Mensch. Er läßt sich ihr
Fleisch und Talg wohl schmecken, setzt ihr Horn als Griff auf
seinen Spazierstock und gerbt das Fell zu einem ausgezeichnet
guten, sammtweichen, elastischen Leder.
Eine lesenswertste Beschreibung der Gemsenjagd giebt der
Pfarrer Steinmüller zu Rheineck, wovon hier das Wichtigste
mitgetheilt werden soll. 'Die Rüstung des Gemsenjägers,' sagt er,
'besteht in einer leichten Kleidung und stark genagelten Schuhen,
woran Fußeisen geschnallt werden, welche sechs bis acht Griffe
haben, und mit denen der kühne Jäger bedächtlich und mühsam,
aber furchtlos, über die steilsten Klippen, neben den scheuslichsten
Abgründen und über hart gcfrorne Schnee- und Eisfelder hin-
weggeht. Die Jäger aus dem Gasterlande und dem Cantón
Schwitz besteigen auch die kahlen Gebirge häufig mit entblößten
Füßen, nachdem sie die Fußsohlen mit Tannenharz klebrig gemacht
haben, was sie von Zeit zu Zeit wiederholen. Der Jäger ist über-
dies mit einem starken, langen, unten mit Eisen beschlagenen Al-
penstock, mit einer guten Flinte, mit Pulver u^id Kugeln und bis-
weilen mit einem Perspectivchen versehen, und endlich hängt eine
kleine Jägertasche an seinen Schultern, worin ein Vorrath von
Käse und Brot, selten ein Fläschchen mit Wein oder Kirschengeist
aufbewahrt ist. Noch ehe die Soniie aufgeht, sucht er schoii in
den höheren und höchsten Bergregionen zu sein. Hat er nun in
irgend einer Gegend eine Gemse verspürt, so erwartet er eiitiveder
ruhig, ob sie sich von der Weide in das Gebirge zurückzieht, wo
er bei ihrer Herannäherung die Flinte auf einen Steiii legt, diese
mit kaltem Bülte nach der Gemse richtet und mi8 seinem verbor-
genen Hinterhalte schießt; oder er sucht sich ihr, und zwar stets
mit Beobachtung des Windes, oft große Strecken weit ans dem
Bauche kriechend, schußweit zu nähern. Ist eine Mutter von ihrem
Jungen weggeschossen wordeil, so wird dieses ängstlich um die
getödtete heriimspringen, sie beriechen xtnb öfters so lange bei ihr
verweilen, bis ein zweiter Schuß geladen und losgedrückt wird.
Weiden die Gemsen in Gesellschaft, oder ruhen sie, so stellen sie
eine Wacht ausz aber nicht nur die Wache, sondern jedes einzelne
Thier für sich ist äußerst lvachsain. Kaiim hat es ein paar Mi-
Niiten geweidet, so hält es deii Kopf schon wieder in die Höhe und
durchschaut die Gegend oder durchwittert die Luft, uiid die erste,
welche etwas Verdächtiges sieht oder hört, stampft mit den Füßen
ans deii Boden und warnt die aiidern mit einem durchdringenden
Pfiff, worauf plötzlich die ganze Gesellschaft zusammenspringt und,
als flöge sie davon, über die steilsten Felsen hiliwegsetzt. Hat der
Jäger eine Gemse erlegt, so freut er sich der gemachten Beute,
weidet sie aus, schwingt sie auf seinen Rücken und kehrt damit
nach Hause. Doch um uns den Aufzug eines solchen heladenen