1861 -
Hanover
: Rümpler
- Autor: Goedeke, Karl, Colshorn, Theodor
- Sammlung: Lesebuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
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andre Thaten der Menschenseele, bei denen das Walten des Geistes
so außerordentlich und unverkennbar ist, daß dieselben in aus-
schließenderem Sinne als Thaten des Geistes,' dessen Leben aus
Gott ist, erscheinen. Mitten unter den Schmerzen des heran-
nahenden Todes dichtete und sang Franciscus von Assisi ein Lob-
lied, welches Gott preiset für das Geschenk der lieblich wärmenden
Sonne, für die Lichter der Nacht, den Mond und die Sterne, für
den erfrischenden Sturmwind und das nährende Wasser, zuletzt aber,
vor allem, für den freundlich zur Heimat führenden Bruder, den
Tod. So ist es der Geist aus Gott, welcher den Tod, dessen
Schrecken die Seele fühlte, in einen lieblichen Boten aus der Hei-
mat verwandelt.
Dem Menschen die rechte Demuth und zugleich die Helden-
kraft zu geben, and) die liebsten, tiefest gewurzelten Neigungen der
sinnlichen Natur einer höheren, göttlichen Liebe aufzuopfern, das
stehet nicht in der Macht der Seele; das vermögen auch nicht die
guten, das Höhere vorbereitenden Engel der Wissenschaft und Kunst.
Unverfälschte Liebe zu Gott und den Brüdern, Demuth und Ge-
horsam, Zucht und Ordnung sind die unverkennbaren Früchte der
Weisheit, welche nicht der Mensch aus eigner Kraft erfand, son-
dern welche Gott ins Herz legte.
Es spricht das Buch der Bücher von einer Gewau, welche
das Himmelreich zu erleiden vermag, und die ihm Gewalt thun,
die reißen es an sich. Welch' andre Kraft aber als eine himm-
lische selber könnte den Himmel bewältigen, welch' andre Macht
als eine göttliche vermöchte Gott zu bewegen? Darum ist es,
nach dem Wort der Offenbarung, nicht der Leib, es ist nicht die
im athmenden Blute lebende Seele, sondern es ist der Geist aus
Gott, welcher die Thaten des Gebetes thut. Wie das Kind zu
seinem Vater, so spricht der durch den Geist betende Mensch zu
seinem Gott. Dieser aber, der Vater, der des Kindes Flehen ver-
nimmt, ist zugleich der Herr über alles Wesen und Sein der sicht-
baren wie der unsichtbaren Welt. Darum, wie das Kind den
durch Liebe starken Arm des Vaters, so bewegt der im Menschen
betende Geist die Macht des Schöpfers lind durch diese die Schöpfung
der Dinge.
Was die Ordnung und das Band des Staates im Reiche
der Seelen, das ist die Religion im Reiche des Geistes. Ja, kein
andres Band knüpfet so fest, so tief, so innig Geist an Geist,
Seele an Seele, Herz an Herz, als das Band der gemeinsamen
Religion. Aber wir wissen noch einen andren, uns näher liegenden
Namen für dieses Band, als den ausdrucksvollen, vielsinnigen des
Wortes Religion. Uns heißt es Glaube des Christen; in diesem
hat jene bindende, ziehende Macht die Gestalt einer lebenden, sanft
führenden Hand empfangen. Ja, die Wallfahrt des Christen durch
die Nacht des Lebens ist das Wandeln eines Kindes an des Va-