1. Bd. 2
- S. 45
1837 -
Eisleben
: Reichardt
- Autor: Cannabich, Johann Günther Friedrich
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
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Russisches Reich.
wenn sie von der Herrschaft unter sich reden, solche so nennen. Übri-
gens kennt die Russische Sprache nicht die Menge von Mundarten, die
man bei den Sprachen anderer Völker antrifft. Selbst die Sprache
des Bauern unterscheidet sich wenig von der des Städters, und über-
haupt spricht der gemeine Mann ohne Vergleich besser, als unser Deut-
scher Bauer, und man hört kein so unverständliches Kauderwälsch, wie
in mancher Provinz von Deutschland. Es existiren 3 Hauptdialekte,
nämlich der Petersburger, Moskauer und Archangelsche. Auch ist ein
bemerkbarer Unterschied in der Sprache zwischen dem Großrussen, Klein-
russen und Rußniaken. Doch nähert sich der Dialekt des Kleinrussen
mehr- der alten Slavonischen Sprache. Das Kleinrussische unterschei-
det sich von dem Großrussischen weniger als das Nieder- oder Platt-
deutsche von dem Hochdeutschen.
Die Russen haben sich noch nicht zu der Stufe der Eivilisation
und der wissenschaftlichen Bildung erhoben, wozu die andern christli-
chen Völker Europas gelangt sind. Doch liegt die Ursache hiervon
nicht etwa in dem Mangel an natürlichen Geistesanlagen, denn man
kann ihnen im Allgemeinen einen hohen Grad von Fassungskraft nicht
absprechen, sie begreifen viel und äußerst schnell, haben ein gutes Ge-
dächtniß und großes Talent für Sprachen, urtheilen sehr richtig, sind
gewandt, und besitzen einen ziemlich richtigen Sinn fürs Schöne —
sondern vielmehr in gewissen äußern Umständen, welche die allgemeine
Verbreitung der höhern Bildung verhindert haben, dergleichen waren
theils die spätere Einführung des Christenthums und das Joch der
Mongolischen Herrschaft, welches vom 10. Jahrhunderte an die drei
folgenden Jahrhunderte auf Rußland lastete, theils die alle freiere
Geistesentwicklung lähmende Leibeigenschaft, theils der Mangel an ge-
hörigen und guten Unterrichts- und Bildungsanstalten. Doch feit
Peter dem Großen und besonders seit Alexander I., diesem vortreffli-
chen Fürsten, der so väterlich für Volksausklärung zu sorgen und die
Hindernisse derselben zu entfernen bemüht war und unter dessen Re-
gierung 5 neu gegründete Universitäten und eine zahllose Menge hoher
und niederer Erziehungs- und Bildungsanstalten entstanden sind, hat
Rußland in der Bildung wahre Riesenschritte gemacht, so daß gegen-
wärtig unter einem großen Theile der Nation Künste und Wissen-
schaften zu blühen anfangen und es wenige Fächer im Gebiete des
menschlichen Wissens giebt, worin sich nicht Russische Gelehrte bereits
versucht hätten, versucht aber auch nur, denn auf Reife und Vollen-
dung kann das jugendlich aufblühende Rußland noch keinen Anspruch
machen. Besonders sind die Kleinrussen von der Natur mit guten
Anlagen ausgestattet, und die Zierden der Russischen Literatur findet
man mehr unter diesen als unter den Großrussen. Bis jetzt ist die
Rusiische Literatur im Werden, und die Russen können noch wenige
eigene literarische Schöpfungen aufweisen, aber sie sind desto fleißigere
und wirklich glückliche Nachahmer und Übersttzer. Die Zahl der Rufst-