1. Bd. 2
- S. 457
1837 -
Eisleben
: Reichardt
- Autor: Cannabich, Johann Günther Friedrich
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
Ostindien.
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ungeheure Menge von Hindus, deren Zahl von Einigen auf 1,200,000
angegeben wird. Viele kommen aus den entferntesten Gegenden, und
Lausende dieser Frommen sterben Hungers oder kommen durch über-
mäßige Anstrengungen auf der Reife und durch den tödtlichen Einfluß
der Regenzeit ums Leben; ihre Leichen werden ohne weitere Umstande
auf den Sand hingeworfen und verbrannt oder den Geiern, Schakals
und Hunden der Parias zur Beute überlasten. Man hat oft schon
100—150 Leichen dort gesehen und Schaaren von jenen Thieren, die
über ihnen um ihre scheußliche Mahlzeit kämpften. Ältere Reifebe-
schreiber erzählen uns sogar, daß eine solche Menge von Pilgrimen auf
dem Wege nach dieser Pagode sterbe, daß das Land aus 20 Stunden
im Umkreise mit menschlichen Gebeinen bedeckt sey, und daß ganze
Heerden von Hunden, Schakals und Geiern die Karawanen begleiteten
als ihrer Beute gewiß. Allein nach Neuern hat man die Zahl der
Todesfälle in Folge der Mühseligkeiten der Pilgerschaft sehr übertrieben,
wiewohl in der Regenzeit allerdings Viele besonders arme Pilger um-
kommen, aber in Dschagernath selbst werden sie äußerst gut behandelt,
wenn sie krank sind, umsonst verpflegt, genährt und mit Arzneien ver-
sehen. Die Brittische Regierung unterläßt nichts, ihre Leiden zu mil-
dern und sie gegen die Erpressungen der Priester zu schützen. Über-
haupt nimmt die Zahl der Pilger mit jedem Jahre ab, so wie auch die
Heiligkeit Dschagernaths selbst in dem Maße in Verfall geräth, als
die Civilisation in Indien Fortschritte macht.
Der Tempel zu Dschagernath, dieses große Heiligthum der Hin-
dus, wurde 1198 vollendet. Das ganze Land im Umkreise von 4|
M. wird für heilig geachtet, aber der heiligste Platz ist ein von einer
24 F. hohen Mauer eingeschtostner viereckiger Raum, der 676 F. in
der Länge und 660 F. in der Breite hat. Innerhalb dieses Vierecks
befinden sich gegen 50 Tempel, die verschiedenen Göttern geweihet sind;
der ausgezeichnetste derselben ist ein hoher Thurm, 200 F. hoch und
28 F. ins Gevierte im Innern groß, genannt Bara dewal, an
welchen zwei steinerne Gebäude mit pyramidenförmigen Dächern
stoßen. Die Dächer sind in einem eigenen Style verziert und stellen
Ungeheuer dar, die sich jedoch ohne Zeichnungen nicht beschreiben lassen.
In jenem thurmartigen Tempel befindet sich im Hintergründe desselben
ein hoher, breiter, goldener Thron, auf welchen der Gott Wischnu oder
Juggernauth (Dschagganatha) zwischen seinem Bruder Boleram und sei-
ner Schwester Schubudra sitzt. Alle drei Götzenbilder sind äußerst
plump aus Holz gehauen und zeichnen sich durch ihre breiten, schwarz-
beräucherten Gesichter aus. Juggernauth besonders hat ein wahrhaft
scheußliches Ansehen. Dafür sind ihm aber, statt der Augen, zwei
Diamanten eingesetzt, deren Werth (wohl mit großer Übertreibung) auf
100 Millionen Fl. geschätzt wird. Auch die zwei andern Götzenbilder
haben dergleichen von großer Kostbarkeit. Alle 3 Figuren sind übri-
gens mit reichen, weißen, in Gold gestickten Gewändern bekleidet, deren