1890 -
Breslau
: Goerlich
- Hrsg.: Richter, Eugen, Hübner, Max
- Auflagennummer (WdK): 8
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
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2. Rechtspflege. Die Femgerichte. Die leibeigenen Bauern wurden
von ihrem Herrn gerichtet. Die freien Bauern standen unter den königlichen Rich-
tern; der Richter hieß Freigraf. Ihm zur Seite standen die Schöffen, welche aus
den freien Leuten gewählt wurden.
Im 14. Jahrhundert entstand aus den Freigerichten das Femgericht. Dieses
bestrafte besonders Straßenraub, Landfriedensbruch und andere Verbrechen, gegen
welche die gewöhnlichen Gerichte nicht einschreiten konnten. Der Hauptsitz der Fem-
gerichte war Westfalen. Der höchste Richter war der Kaiser; der Vorsitzende jedes
einzelnen Gerichts hieß der ^Dtuhlherr, ihm zur Seite standen die Freischöffen.
Wenn jemand eines Verbrechens angeklagt war, wurde er schriftlich vor das Ge-
richt geladen; oft wurde die Vorladung an das Thor des Schlosses oder der Stadt
genagelt, wo der Angeklagte wohnte. Kam der Angeklagte zur festgesetzten Zeit,
so wurde ihm die Anklage vorgelesen. Behauptete er seine Unschuld, so mußte er
es mit 2, dann mit 14, dann mit 21 anderen beschwören; geschah dies, so wurde
er freigesprochen. Konnte er seine Unschuld nicht nachweisen, gestand er sein Ver-
gehen ein oder kam er nicht vor das Gericht, so wurde er verurteilt (verfemt).
Trafen mehrere Freischöffen einen solchen Verfemten, so hängten sie ihn an den
nächsten Baun: und steckten ein Messer daneben. Gewöhnlich konnte kein Versteck
und keine Flucht den Schuldigen retten. Daher schüchterte die Angst vor der Feme
auch die rohesten Menschen ein. Als im 16. Jahrhundert die ordentlichen Gerichte
mehr ausrichten konnten, hörten die Femgerichte allmählich auf.
16. Wichtige Erfindungen und Entdeckungen am Ende des Mittelalters.
Im 14. und 15. Jahrhundert wurde eine Reihe wichtiger Entdeckungen
und Erfindungen gemacht, durch welche der Handel, die Wissenschaften und die
Kriegsführung umgestaltet wurden.
1. Die Erfindung des Schießpulvers. Schon vor 2000 Jahren kannten
die Chinesen das Pulver; von ihnen lernten es die Inder, von diesen wieder
die Araber kennen. Letztere beherrschten durch mehrere Jahrhunderte Spanien,
und von hier aus verbreitete sich der Gebrauch des Pulvers durch die anderen
Länder Europas. Anfangs kannte man nur Kanonen, die man Donnerbüchsen
nannte. Sie waren außerordentlich groß und schwer fortzubringen. 18—20
Ochsen mußten oft vor ein solches Geschütz gespannt werden. Zuerst schoß
man mit steinernen Kugeln, später mit metallenen. Da das Pulver noch sehr
unvollkommen war, trafen die Kugeln auch schlecht; dessen ungeachtet benutzten
namentlich die Städte die neue Erfindung sehr gern. Denn die stärksten
Mauern einer Burg erlagen endlich den schweren Kugeln der Donnerbüchsen.
Die Raubritter, die früher auf ihren festen Burgen sicher gewesen waren,
mußten sich ergeben und ihrem Handwerk entsagen. Daher standen die Ge-
schützmeister und Pulvermacher in großem Ansehen. Allmählich goß man auch
kleinere Röhren, die ein einzelner Mann tragen konnte; so entstanden die
Schießgewehre. Sie waren aber noch so groß und schwer, daß sie beim Zielen
auf eine eiserne Gabel gelegt wurden, die man in die Erde stieß; auch dauerte
es sehr lange, bis man einen Schuß abfeuern konnte. Erst im Laufe der
Jahrhunderte wurden die Gewehre und das Pulver vervollkommnet.
Durch die Erfindung des Schießpulvers wurde die ganze Kriegführung
umgeändert. Nicht mehr die Stärke und Tapferkeit des einzelnen gewann den
Sieg, sondern die Klugheit des Anführers und die Menge der Soldaten.
Die Rüstung des Ritters wurde nutzlos, weil sie den Mann vor den Kugeln
nicht schützte, und das Rittertum ging zu Grunde.