1899 -
Schleswig
: Bergas
- Hrsg.: Warnecke, Johannes, Debus, Gustav, Kruse, Otto, Finckh, Karl
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Taubstummenschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Taubstummenschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
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sie auch noch im Bette, wenn sie es wünschten. Er führte den wechselseitigen
Unterricht ein; wußte eines der Kinder mehr als die anderen, so setzte es
sich zwischen diese und unterwies sie. Alles, was den Kindern cut Leib und
Seele Gutes geschah, kam von Pestalozzi; er war ihnen Vater und Mutter,
Aufseher und Krankenwärter, Lehrer und Erzieher.
3. Pestalozzis Bemühungen hatten guten Erfolg. Nach einigen
Monaten kannte man die Kinder kaum wieder; ihre Gesichtsfarbe war blühend
geworden und fröhliche Lebenslust strahlte aus ihren Augen. Im Unterrichte
lernten sie so eifrig, daß Pestalozzi selbst sich Wundern mußte. Die Kinder
hingen mit großer Liebe an ihrem Pflegevater; alles, was sie ihm an den
Augen absehen konnten, thaten sie mit Freuden. Sie liebten aber anch wie
Geschwister einander und halfen sich gegenseitig, wo sie nur konnten; von
Zank und Streit war nichts zu hören. Als einmal in der Nähe von Stanz
ein ganzes Dorf abbrannte, sagte Pestalozzi zu seinen Pflegekiuderu: „Wie
wäre es, wenn wir 20 der armen, obdachlos gewordenen Kinder zu uns
nähmen? Ihr müßtet dann allerdings euer Brot mit ihnen teilen." Da
riefen alle: „Laß sie kommen!" und jubelten vor Freude. Sie hatten in
Pestalozzis Schule gelernt, daß Geben seliger ist als Nehmen.
4. Doch, es fehlte Pestalozzi auch uicht an Enttäuschungen. Unter
seinen Zöglingen gab es auch solche, die nicht gehorchen wollten und die
wegliefen, wenn sie bestraft wurden, Auch nicht alle Eltern waren ihm dankbar.
Einige scheuten sich uicht, von Pestalozzi Vergütung zu fordern; sie sagten:
„Wir haben viel Schaden, wenn wir unsere Kinder beim Betteln nicht bei
lins haben." Andere warteteil ab, bis ihre Kinder mit neiien Kleidern
ausgestattet waren; dann aber nahmen sie sie ohne weiteres aus der Anstalt
weg und hielten sie wieder zum Betteln au.
5. Leider wurde das ehemalige Kloster, in welchem Pestalozzis Armen-
anstalt war, scholl nach fünf Monaten zu einem Lazarette eingerichtet. Da
kein anderes Gebäude zur Verfügung stand, war Vater Pestalozzi gezwungen,
seine Anstalt aufzulösen. Mit schwerem Herzen und Thränen tu den
Augen nahm er im Jahre 1799 Abschied von den Kindern, die er so lieb
gewonnen hatte, uild die er nun wieder verlassen mußte. Schon vor seiner
Wirksamkeit in Stanz hatte er durch seine Fürsorge für Bettelkiuder sein
gailzes Vermögen verloren; er war selbst bettelarm geworden und hatte oft
weder Brot noch Holz gehabt, um sich vor Hunger lind Kälte zu schützen.
Nun hatte ihn von neuem ein schwerer Schicksalsschlag getroffen. Doch nichts
konnte ihm seine unerschöpfliche Liebe rauben. Mit unermüdlichem Eifer
gründete Pestalozzi später noch mehrere Anstalten in der Schweiz und
widmete sein ganzes Leben der Erziehung der Jugend. Eine der Anstalten
war zu Iverdon, woselbst jetzt (wie uuser Bild zeigt) ein schöiles Pestalozzi-
Denkmal steht.
6. Der große Kinderfreund wurde vou vielen seiner Zeitgenossen hoch
geehrt. Die Königin Luise schrieb in ihr Tagebuch: „Wäre ich mein eigener
Herr, so setzte ich mich in einen Wagen und rollte zu Pestalozzi in die Schweiz,
um dem edlen Manne mit Thränen in den Angen uild mit einem Händedruck
zu danken. Wie gut meint er es mit der Menschheit! Ja, in der Menschheit
Namen danke ich ihm."