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1906 -
Berlin
: Klinkhardt
- Autor: Sandt, Hermann, Jütting, Wübbe Ulrich, Heinemann, Karl, Weber, Hugo
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
575
merkt man das ernste Gesicht des einstigen Thronfolgers, des Prinzen
Wilhelm. Von den Reichsboten fehlen nur wenige. Alle fühlen,
daß in diesen Stunden die Augen der ganzen Welt auf das schlichte
Haus in der Leipziger Straße gerichtet sind. Durch den Saal geht
ein unruhiges, erregtes Summen und Flüstern.
Plötzlich wird's still; Bismarck tritt in Begleitung seines Sohnes
Herbert ein. Der Reichskanzler setzt sich an seinen Platz. Jetzt erhebt er
sich, und sein Auge überfliegt die Versammlung. Nun spricht er von
Deutschlands Lage zu den Nachbarvölkern; dann kommt er zu seinem
Hauptzwecke: er rechnet einmal mit Rußland ab. Jedes Wort ist ein
helles Licht für Freund und Feind: „Wir wollen gut Freund mit den
Russen bleiben; aber wir laufen niemand nach." Ununterbrochen
redet er weiter; jetzt tönt's durch seine Stimme wie Waffenklirren.
Feierlich verkündet er: „Nie wird Deutschland einen Angriffskrieg
führen. Aber werden wir herausgefordert, dann wird das ganze
Deutschland von der Memel bis zum Bodensee wie eine Pulvermine
aufspringen. Der feste Mann, der Familienvater, jene Hünengestalten,
die noch von der Besetzung der Brücke zu Versailles her bekannt
sind, werden wieder zu den Waffen greifen, und wir werden wieder
mit Gottes Hilfe in gerechter Sache siegen." Die Herzen der Hörer
schlagen; jeder fühlt sich jetzt mit echtem Stolze als Deutscher. Und
nun schließt der Kanzler mit einem Kernworte: „Wir Deutsche
fürchten Gott, und sonst nichts ans der Welt!" so klingt's hell und
stark in den Saal, in die Welt hinein.
Einen Augenblick Schweigen. Dann bricht ein Jubel los, wie
ihn der deutsche Reichstag noch nicht gesehen hat. In unbeschreiblicher
Erregung schütteln die Männer einander die Hände; in wenigen Mi-
nuten ist die Heeresvorlage angenommen. Erregt strömen die Abge-
ordneten auf die Straßen. Wie ein Blitzstrahl fliegt das Wort durch
die Menge: „Wir Deutsche fürchten Gott, und sonst nichts auf der
Welt." Die Menge braust. Der Kanzler tritt aus dem Hause.
Tausende von Armen strecken sich ihm entgegen; Tausende von Herzen
schlagen ihm zu. Der Verkehr stockt, die Straße bebt. Der Jubel-
schrei begleitet ihn bis zu seinem Hause, und durch denselben hindurch
tönt: „Lieb Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die
Wacht am Rhein."
Aus der Schule f. d. Schule.
<st. Kalcke.