1884 -
Wismar
: Hinstorff
- Autor: Schraep, J.
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch, Lehrbuch
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eingeschlafen". Die eheliche und häusliche Innigkeit des hohen Paares wurde
durch das Unglück nur befestigt. Wie trefflich verstand cs „seine liebe Luise" den
in sich gekehrten Gemahl aufzurichten und zu ermutigen. Ihre Kinder waren
ihre größten Schätze, und ihre Augen ruhten angesichts der trüben Zeit voll Hosf-
nung auf ihnen.
Im Jahre 1808 machte das Königspaar einen Besuch in Petersburg. Alle
ihr dort gebrachten Huldigungen vermochten jedoch der Königin keine unbefangene
Freude mehr zu bereiten; sie fühlte, daß ihr Reich nicht mehr von dieser Welt
sei. Schon in Petersburg war sic von Unwohlsein ergriffen worden; den ganzen
Sommer 1809 hindurch fühlte sic sich leidend. Am Ende des Jahres wurde
endlich ihre Sehnsucht erfüllt, wieder nach Berlin zurückkehren zu können. Es
war ein Triumphzug, und aller Orten wurde dem Königspaare der rührendste
Empfang zuteil. Diese Reise und der Besuch bei ihrem Vater, dem Herzoge von
Mccklenburg-Strelitz. waren die letzten Sonnenblicke für die Leidende. Es war ihr
langjähriger Wunsch gewesen, noch einmal am väterlichen Hofe einen Besuch zu
machen. Dieser Wunsch wurde ihr im folgenden Sommer erfüllt. Ihre Um-
gebung ward aber leider! bald gewahr, daß das Antlitz der Leidenden deutlich den
Todeskeim zeigte. Sie erkrankte bedenklich. Husten. Fieber und eine große Mattig-
keit waren eingetreten, und plötzlich stellte sich auch ein heftiger Brustkrampf ein.
Der König wurde von Berlin gerufen und traf mit seinen beiden ältesten Söhnen
ein, dem späteren Nachfolger Friedrich Wilhelm Iv. und Wilhelm, unserm jetzigen
Kaiser; ersterer war damals 15, letzterer 13 Jahre alt. Es war die letzte Freude
für die Sterbende, noch einmal ihre Lieben zu sehen. Der König war gebrochen
von Schmerz; schon wenige Stunden nach seiner Ankunft trat wieder ein heftiger
Krampfanfall ein; kurze Zeit darauf bog die Königin sanft das Haupt zurück und
schloß die Augen, ausrufend: „Herr Jesus, mach es kurz!" Noch einmal atmete
sie auf. und mit diesem stillen Seufzer endete ihr Leben. Der König drückte
seiner Luise die Augen zu, — seines Lebens Sterne, die ihm auf seiner dunklen
Bahn so treu geleuchtet.
Der tiefste Schmerz eines ganzen Volkes begleitete den Leichenzug nach
Berlin und nach Charlottcnburg, wo ihr der edle Gemahl in dem berühmten
Mausoleum eine Ruhestätte bereitet hat. wie sie ihrer und seiner würdig ist.
Auf einem Sarkophage ruht die schlafende Königin unvergleichlich schön vom Bild-
hauer Rauch in Marmor geschaffen. Tausende pilgern jährlich dahin in dankbarer
Erinnerung an die „unvergeßliche Luise." Für die königliche Familie aber ist der
Todestag der edlen Entschlafenen noch heute ein Bet- und Gedenktag an die früh
Verklärte. (Nach Eylert.)
250. Die geraubte Blume.
Die schöne Pfaueninsel, auf welcher Friedrich Wilhelm Iii. viele seltene
Tiere und Pflanzen unterhalten und pflegen ließ, war zu seiner Zeit ein beliebter
Besuchsort für die Bewohner von Potsdam und Berlin, denen wie jedem Frem-
den der Zutritt zweimal in der Woche gestattet war.
Einst hatte die Kaiserin von Rußland ihrem hochverehrten Vater eine wun-
derschöne Blume geschickt. Sie war von angenehmem Dufte und entfaltete unter
der Hand des kunstsinnigen Hofgärtners eine' seltene Farbenpracht. _ Der König
hatte "seine Freude an dieser seltenen Blume, betrachtete sie^ oft in seiner stillen
Gemütlichkeit und nannte sie nach seiner geliebten Tochter. So oft er in dieser
Zeit nach der Pfaueninsel kam. wo er gern weilte, pflegte er gleich beim ersten