1884 -
Wismar
: Hinstorff
- Autor: Schraep, J.
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch, Lehrbuch
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liche Land antreten. Hierauf hatten die Russen gewartet. Mit den
Schwärmen ihrer Kosaken verfolgten sie den fliehenden Feind, ließen
ihm keine Ruhe weder bei Tag noch bei Nacht, und wer sich nur
voil dem Hauptheere entfernte, wurde niedergemacht. Da brach Tod
und Verderben noch furchtbarer über das gewaltige Heer herein.
Früher als gewöhnlich trat in den öden Steppen Rußlands ein
harter Winter ein. Die fliehenden Scharen hatten keinen Schutz
gegen die Kälte; ihre Kleider waren zerrissen, die Füße, halb entblößt,
zitterten auf dem kalten Schnee; die Dörfer und Städte waren ver-
wüstet, nirgends ein Obdach gegen den furchtbar schneidenden Wind,
kein Bissen Brot, den nagenden Hunger zu stillen. Da ergriff Ver-
zweiflung ihre Herzen. An jeden: Morgen lagen Haufen Erfrorener
um die ausgebrannten Wachtfeuer. Die ermatteten Krieger konnten
sich kaum weiter schleppen; Tausende blieben zurück und wurden eine
Beute der russischen Wölfe. Als das erschöpfte Heer über die Beresina
zog — hinter ihm her waren die russischen Scharen —, da brachen
die Brücken, und Tausende fanden in den Fluten ihr Grab. — Da
verließ Napoleon heimlich das Heer; in einem elenden Schlitten fuhr
er nach Frankreich. Die Hand des Herrn hatte ihn getroffen. Der
hatte gesagt: „Bis hierher und nicht weiter; hier sollen sich legen
deine stolzen Wellen!" (Kohlrausch.)
255. Die Trommel.
Rings wirbelt die Trommel im Preussenland;
Still liegt nur ein Hüttchen am baltischen Strand.
Was jammert das Weib drin bei Tag und bei Nacht? —
Ihr Mann ist gefallen in heisser Schlacht.
Auch traf ihr die Kugel der Söhne zwei;
Der jüngste nur lebt, und ihr Kummer dabei.
Und lebt dir ein Knabe, was härmst du dich bleich?
0, preise den Himmel! noch bist du ja reich.
Doch horch! welche Töne das Ufer entlang? —
Das Weib schrickt zusammen; was macht sie so bang?
„Horch, Mutter, wie schallt es so mächtig und laut!“ —
Mein Sohn, zur Kirche wohl fährt man die Braut.
„Nein, Mutter, das klingt nicht wie Hochzeitston.“
So trägt einen Toten zu Grab man, mein Sohn.
„Nein, nein! so klingt auch nicht Sterbegesang!
Schon kenne den Ton ich; schon hört ich den Klang.
Als einst ich ihn hörte zum erstenmal,
Da war's für den Vater das Abschiedssignal.
Und als er zum andern getroffen mein Ohr,
Da folgten die Brüder dem werbenden Chor.
Schraep, Lese- und Lehrbuch Ii. 2. 22
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