1904 -
Bielefeld [u.a.]
: Velhagen & Klasing
- Autor: Kahnmeyer, Ludwig, Schulze, Hermann
- Auflagennummer (WdK): 61
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Schülerbuch
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
I
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erlösen*) Unter den in Deutschland umherziehenden Ablaßkrämern ist besonders
Tetzel bekannt geworden. Dieser trieb die ärgsten Mißbräuche mit dem Ablaß-
Handel und machte daraus ein gewöhnliches Geldgeschäft. Sobald er vor
einer Stadt ankam, ließ er hineinsagen: „Die Gnade Gottes und des heiligen
Vaters ist vor euern Toren." Priester und Mönche, Bürgermeister und Rat,
Lehrer und Schüler zogen ihm dann entgegen und holten ihn mit Gesang und
unter Glockengeläute ein. So ging es in die Kirche. Vor dem Altar wurde
eine rote Fahne mit des Papstes Wappen aufgestellt und eine eiserne Truhe
davorgesetzt, um das Geld aufzunehmen. Nun forderte Tetzel fleißig zum Kaufe
der Ablaßbriefe auf und verhieß „vollkommene Vergebung der Sünden" jedem,
der sich einen solchen Zettel kaufte. Von Reue und Buße schwieg er. Man erzählt,
daß er gerufen habe: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem
Fegefeuer springt." So verführte er die Leute immer mehr zu dem Glauben,
daß für Geld wirklich Vergebung der Sünden zu erlangen sei. Sie zahlten für
einen Meineid 9, für einen Mord 8 Dukaten re. Ja, man konnte auch Ablaß
bekommen für Sünden, die man erst noch begehen wollte.
Doch soll Tetzel einmal mit eigener Münze bezahlt worden sein. Einst, so erzählt
die Sage, kam ein Ritter zu ihm und begehrte Ablaß dafür, daß er jemand auf der
Straße berauben wolle. „Ei," sagte Tetzel, „ein solcher Zettel ist sehr teuer," und forderte
30 Taler. Als aber Tetzel mit seinem schweren Kasten bald darauf durch einen Wald
fuhr, sprengte plötzlich der Ritter an ihn heran und nahm ihm den Kasten weg. Tetzel
verfluchte ihn in den Abgrund der Hölle; der Ritter aber zeigte lachend seinen Ablaßzettel
und ritt mit dem Gelde davon.
6. Die 95 Thesen. Im Jahre 1517 trieb Tetzel auch gauz in der Nähe
von Wittenberg, in Jüterbogk, sein Wesen. Luther sah mit heiligem Zorn auf
diesen Ablaßunfug und zog in seinen Predigten gewaltig dagegen los. Aber
wenn er die Leute zur Buße ermahnte, so beriefen sie sich auf ihre Ablaßzettel
und meinten, der Buße nicht mehr zu bedürfen. Da schlug Luther am 31. Oktober
1517 seine 95 Thesen (Sätze) an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg.
Sie waren sämtlich gegen den Ablaß gerichtet. Die 32. These lautet z. B.:
„Die werden samt ihren Meistern zum Teufel fahren, die da vermeinen, durch
Ablaßbriefe ihrer Seligkeit gewiß zu. sein." Gegen jedermann wollte Luther-
seine Sätze verteidigen. „Der wird's tun! Er kommt, aus den wir alle gelvartet
haben," rief ein frommer Leser aus.
7. Luther sagt sich vom Papste los. In 14 Tagen verbreiteten sich
Luthers Sätze in ganz Deutschland, und in 4 Wochen waren sie in der ganzen
Christenheit bekannt. Es war, als ob die Engel selbst Botenläufer gewesen
wären. Viel Gerede erhob sich dafür und dawider. Luther aber sprach: „Ist
das Werk nicht in Gottes Namen angefangen, so ist es bald gefallen; ist es aber
in seinem Namen angefangen, so lasset denselben walten." Der Papst war ent-
rüstet und verlangte Luthers Auslieferung; aber der fromme Kurfürst Friedrich
*) Die katholische Kirche lehrte nämlich: Durch Reue und Bekenntnis könnten wohl
die ewigen Sündenstrafen, nicht aber auch die zeitlichen erlassen werden. Zu diesen gehörten
besonders die von der Kirche verhängten, z. B. das Stehen im Büßergewande an der
Kirchtür während des Gottesdienstes. Wer aber diese Strafen nicht vollständig abgebüßt
habe, müsse nach dem Tode noch im Fegefeuer büßen. Nun aber hätten Christus und die
Apostel so viel gute Werke getan, daß ein Überschuß derselben vorhanden sei, über den der
Papst zu Gunsten der sündigen Menschen verfügen und durch den er die zeitlichen Sünden-
strafen und auch die Qualen des Fegefeuers erlassen könne. Als Gegenleistung forderte
der Papst gewöhnlich allerlei Bußübungen, Wallfahrten u. bergt., später aber auch eine
Geldzahlung zu frommen Zwecken, z. B. zu milden Stiftungen.