1893 -
Altenburg
: Bonde
- Hrsg.: Runkwitz, Karl
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
78
Kiitsel.
Ein Glöcklein ist mir wohlbekannt,
Es schimmert hell im ganzen Land;
Aus Silber scheint es dir gegossen,
Doch ist es aus der Erd' entsprossen.
Mit einem Klöppel ist's verseh'n,
Doch hörte niemand sein Getön.
Auch ist's auf keinem Turm gehangen,
Es kann nur in der Tiefe prangen.
85. Frühlingsglocken.
1. Schneeglöckchen thut läuten!
Was hat das zu bedeuten? —
Ei, gar ein lustig Ding!
Der Frühling heut' geboren ward,
Ein Kind der allerschönsten Art;
Zwar liegt es noch im weißen Bett,
Doch spielt es schon so wundernett.
D'rum kommt, ihr Vögel, aus dem
Süd
Und bringet neue Lieder mit!
Ihr Quellen all',
Erwacht im Thal!
Was soll das lange Zaudern?
Sollt mit dem Kinde plaudern!
Was hat das zu bedeuten? —
Frühling ist Bräutigam,
Macht Hochzeit mit der Erde heut'
Mit großer Pracht und Festlichkeit.
Wohlauf denn, Nelk' und Tulipan,
Und schwenkt die buntehochzeitfahn'!
Du Ros' und Lilie, schmückt euch
fein,
Brautjungfern sollt ihr heute sein!
Ihr Schmetterling'
Sollt bunt und flink
Den Hochzeitreigen führen,
Die Vögel musizieren.
3. Blauglöckchen thut läuten!
Was hat das zu bedeuten?
Ach, das ist gar zu schlimm!
Heut' Nacht der Frühling scheiden muß,
D'rum bringt man ihm den Abschiedsgruß,
Glühwürmchen zieh'n mit Lichtern hell,
Es rauscht der Wald, es klagt der Quell,
Dazwischen singt mit süßem Schall
Aus jedem Busch die Nachtigall,
Und wird ihr Lied
Sobald nicht müd',
Ist auch der Frühling schon so ferne;
Sie hatten ihn alle so gerne.
86. Die Blüte des Kirschbaums.
Sieh' dir einmal die Blüte des Kirschbaums an! Gewiß wird dir
die Kirsche noch einmal so gut schmecken, wenn du sie mit Verstand ge-
nießest, das heißt, wenn du weißt, wie es zugegangen ist, daß aus dem
Knöpfchen, grün wie Gras, ein Schüsselchen, weiß wie Schnee, und eine
Kugel, rot wie Blut, wird.
Die Kirschblüte ist ein neugieriges und lebenslustiges Geschöpf.
Mit allzeit offenen Augen will sie sehen, was rings um sie her vorgeht,
und will mit allezeit offenem Munde Luft und Sonnenschein, Regen und
Tau schlucken. Darum versteckt sie sich nicht unter ihre Spiel- und
Hausgenossen, die Blätter, sondern setzt sich ans ein Stühlchen, das zwar