1893 -
Altenburg
: Bonde
- Hrsg.: Runkwitz, Karl
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
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nur einbeinig ist, aber doch hinreichend stark, sie zu tragen, und dazu
hoch genug, so daß sie nach allen Seiten genießen und sich umschauen kann.
Die Blüte selbst wird durch vier Ringe gebildet, von denen einer
den anderen einschließt. Den äußersten Ring bilden fünf hellgrüne
Blättchen, welche den Namen Kelch führen. Was für dich der Überrock
ist, das sind sie für die inneren zarten Teile der Blüte. In sie ein-
gewickelt, konnten diese der Fröste spotten, welche die Frühlingsnächte
brachten, und brauchten sich um die rauhe Märzenluft und den April-
schnee eben so wenig zu kümmern, als das Kind, das hinter dem warmen
Ofen sitzt.
Der zweite Kreis ist die
Blumenkrone, das Staats-und
Sonntagskleid, mit welchem sich
die Blüte in den sonnigen Tagen
des Frühlings schmückt. Als Jo-
seph in dem andern Wagen des
Königs Pharao fuhr, so mag er
sich in dem Kleide von weißer
Seide gar prächtig ausgenommen
haben; aber doch ist er in aller
seiner Herrlichkeit nicht bekleidet
gewesen, wie eine von diesen
Blumen in ihrem Rocke, der aus
fünf zarten, weißen, inwendig am
Kelche angewachsenen Blättern
besteht und die Gestalt einer klei-
nen Rose hat. Wie du zwei
Arme und zwei Augen hast, weil
deinem Leibe zwei Beine und zwei
Ohren angewachsen sind, so hat
die Blumenkrone, gerade wie der
Kelch, fünf Blätter; denn in der
Welt der Pflanzen geht es meistens
nach dem Gesetze des Ebenmaßes,
und wenn der Baumeister die vor-
dere Seite des Hauses eben so lang und hoch macht, als die hintere,
und im südlichen Giebel nicht mehr und nicht weniger Fenster anbringt,
als im nördlichen, so hat er seine Kunst erst dem lieben Gotte und seinem
Wirken in der Natur abgelauscht.
Im Innern des Kelches finden wir den dritten und vierten Kreis.
Jener besteht bei der Kirschblüte aus mehreren Ringen und wird durch
die Staubgefäße gebildet. Ihrer sind 30—40, und sie sind sämtlich
inwendig am Kelche angewachsen. Aus den ersten Blick bemerken wir,
daß jedes Staubgefäß in zwei Teile zerfällt: einen unteren, welcher auf-
recht steht, ziemlich lang, dünn und weiß ist, und eben weil er mehr
oder weniger einem Faden ähnlich ist, Staubfaden genannt wird, und
einen oberen, das gelbe Knöpfchen, welches ans dem Ende des Staub-
fadens aufsitzt und, weil es in seinem Innern den Blnitenstaub birgt,
der Staubbeutel heißt. Der Blütenstaub erscheint, mit bloßen Augen
Die Sauerkirsche.
a Blütenzweig in Vs natürlicher Größe.
b Fruchtzweig in halber Größe, c ein Staub-
gefäß, dem die Hälfte des Fadens abge-
nommen, 3 mal vergrößert, d eine aufge-
schnittene Kirsche in natürlicher Größe, e ein
Querschnitt durch den Keimling.