1893 -
Altenburg
: Bonde
- Hrsg.: Runkwitz, Karl
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
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wie ihn der Dichter sich wünscht, wenn er singt: O daß ich tausend
Zungen hätte und einen tausendfachen Mund! Jedes Blatt hat nament-
lich auf seiner unteren Seite eine Unmasse kleiner, länglicher Löcher, die
sogenannten Spaltöffnungen, welche wie ein zur Aufnahme des Bissens
geöffneter Mund aussehen. Von Zähnen ist natürlich in einem solchen
Munde nichts zu spüren; denn hier handelt es sich nicht um das Zer-
malmen harter Knochen oder festen Brotes, sondern um das Verschlucken
lauter flüssiger Speisen, nicht um Essen, sondern um Trinken. Nun weißt
du, warum die Blätter nicht wie Kugeln, Würfel oder Walzen gestaltet
sind, sondern breite Flächen bilden: sie sollen auf allen Punkten mit der
sie umgebenden Luft in Berührung kommen und aus ihr so viel Nahrung
schlucken und an sie so viel Lebenslust abgeben, als nur immer möglich ist.
Wann gefällt dir der Baum besser, im Sommer, oder im Winter?
Allemal im Sommer. Und warum? Weil er da im vollen Schmucke
vor uns steht. Die Blätter sind ja nicht bloß die Lunge und der Mund,
sie sind auch das Kleid der Pflanze. Bei uns Menschen dienen die
Kleider oft dazu, Häßliches zuzudecken, bei den Pflanzen offenbaren sie
nichts, als Schönheiten. Wie ziert doch das Blatt durch den Reichtum
seiner Formen, durch die Mannigfaltigkeit seiner Verbindungen, durch den
steten Wechsel von Ruhe und Bewegung, vor allem aber durch seine Farbe!
Diese ist je nach der Jahreszeit verschieden. Hellgrün im Frühlinge, färbt
sich das Blatt im Laufe des Sommers dunkler, und im Herbste erscheint
der Wald, als ob der Färber seine ganze Kunst und ein gutes Teil seiner
Farben an ihm versucht hätte. Dort prangt eine Birke im hellsten Gelb,
und während ihr Nachbar, der Ahorn, just wie der Busch, in welchem der
Herr dem Moses erschien, in rotem Feuer strahlt, hat hinter ihm die Buche
schon angefangen, ihr braunes Winterkleid anzuziehen. Dieser Wechsel der
Farbe rührt von der Einwirkung des Lichtes her. Betrachten wir ein
Blatt unter einem starken Vergrößerungsglase, so stellt es sich keineswegs
als eine feste Masse dar, sondern als ein Gewebe, das aus vielen Zellen
besteht. In den meisten derselben findet sich ein in der Regel heller, farb-
loser Saft, und nur in einzelnen, zerstreut liegenden Zellen entdecken wir
winzige Kügelchen oder Körnchen. Bei Pflanzen, welche in Kellern oder
anderen dunkeln Orten gewachsen sind, sehen diese Körperchen schmutzig
weiß aus, nehmen aber, dem Lichte ausgesetzt, nach und nach die gewöhn-
liche grüne und später die rote, gelbe oder braune Farbe an. Sie sind
so klein und stehen so dicht bei einander, daß uns das Blatt, mit bloßen
Augen angesehen, im ganzen als grün erscheint. Aus eben diesem Einflüsse
des Lichtes ist es auch zu erklären, daß die der Sonne zugewandte obere
Blattfläche in den meisten Füllen dunkler gefärbt ist, als die der Erde zu-
gekehrte untere Seite. Licht ist überhaupt eines von den Stücken, welche
mit wenigen Ausnahmen die Pflanzen zu ihrem Bestehen und Gedeihen
nötig haben, daher denn auch das Blatt in den meisten Fällen seine größte
Fläche dem Lichte zuwendet. Unter unseren Waldbüumen verlangen das
meiste Licht die Blätter der Kiefer und namentlich der Birke; bei dieser
decken sich die Blätter nicht, sondern hängen einzeln und frei, dem Lichte
nach allen Seiten hin ausgesetzt; am wenigsten Licht brauchen die Blätter
der Buchen, Tannen und Fichten.