1893 -
Altenburg
: Bonde
- Hrsg.: Runkwitz, Karl
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
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aber es hat größere, als jedes andere Land Europas, und erfreut sich
einer gleichmäßigeren Wasserverteilung nach fast allen Gegenden. Und
was die Schönheit unserer Flußlandschaften anlangt, so steht unser Vater-
land selbst weit über Frankreich. Die Seine kann weder an Wasser-
reichtum, noch an Schönheit der Gegenden mit der Elbe verglichen werden;
denn ihre Ufer bieten nirgends solche Landschaften, wie die Elbe bei
Dresden. Ebenso können sich auch die sonst schönen Ufergegenden der
Rhone bei Lyon nicht mit den Schönheiten des österreichischen Donau-
thals und denen des Rheinstroms messen, dessen prachtvolle User mit
ihren Rebenhügeln, Bergen, Städten und Burgruinen von den Reisenden
oller Nationen gepriesen werden.
Auch in klimatischer Beziehung nimmt „Deutschland eine Mittel-
stellung ein. Fast gleich weit vom Pol und Äquator entfernt, liegt es
unter einem gemäßigten Himmelsstriche, und ist eben so sehr vor nor-
discher Armut, welche den Geist abstumpft, wie vor südlicher Fülle ge-
schützt, welche auf die Thatkraft erschlaffend, auf die Sinnlichkeit über-
reizend wirkt. Die deutschen Fluren erglänzen nicht in dem blendenden
Sonnenstrahle und der sengenden Luft der südlichen Tropenwelt, sie
dämmern aber auch nicht in dem fahlen Lichte und der Erstarrung der
nördlichen Gegenden. Über Deutschlands Gauen lacht zwar kein stets
blauer Himmel, keine ewig blitzende Sonne, wie in Spanien und Italien;
aber sie sind auch nicht verschleiert von dem nebeligen Grau Englands,
gegen dessen dicke Nebel sich die deutschen nur wie zart gewebte Schleier
gegen Sackleinwand ausnehmen, und sind nicht ausgetrocknet vom schnei-
denden Luftzuge des massenhaften und ebenen Ostens.
Deutschland bringt alles hervor, was der Mensch zur Erhaltung
und Entwicklung des Geistes bedarf, ohne ihn zu verweichlichen, zu ver-
härten, zu verderben. Der Boden ist zu jeder Art von Anbau geeignet.
Unterhalb des ewigen Schnees der Alpen dehnen sich die herrlichsten
Weiden aus. Den kahlen Felswänden entlang ziehen sich üppige Thäler
hin, und neben Moor und Heide, welche nur von der bleichen Binse und
der Brombeerstaude bewachsen sind und menschlichem Fleiße nichts ge-
währen, als die magere Frucht des Buchweizens oder des Hafers, erfreuen
das Auge die kräftigsten Fluren mit den schönsten Saatfeldern und den
herrlichsten Erzeugnissen des Gartenbaues. In Deutschland prangen
Fruchtbäume in unermeßlicher Menge und in jeder Art, vom sauern
Holzapfel f)i§ zur lieblichen Pfirsiche. Dabei ist unser Vaterland wald-
reicher, als die drei Südländer Europas, wo der Wanderer nur zu oft
über nackte Höhen und baumlose Landschaften zu klagen Ursache hat.
Unsere Wälder prangen noch hoch auf den Bergen des Landes mit herr-
lichen Eichen und Buchen, die nirgends schöner sind, als in Mecklenburg,
Holstein und aus Rügen; die höheren Berge sind von Tannen- und
Fichtenwäldern bedeckt, und von Linden, Ulmen, wilden Kastanien, Eschen,
Akazien und Pappeln werden selbst im nördlichen Flachlande die Kirch-
höfe, Dorsplätze und Straßen verschönert. Indem die Eiche auf steilen
Gipfeln ihr Haupt zu den Wolken emporhebt, blickt sie über Abhänge
und Hügel hinweg, welche köstlichen Wein erzeugen. Während der Mensch
von keinem reißenden Tiere geschreckt, von keinem giftigen Gewürm be-
droht, von keinem häßlichen Ungeziefer gequält wird, gewährt das Land