1893 -
Altenburg
: Bonde
- Hrsg.: Runkwitz, Karl
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
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ein heimisches Ruheplätzchen und in dem Vorsteher des Klosters einen
treuherzigen Tiroler fanden, mit dem sich in jeder Beziehung Deutsch
reden ließ! Der folgende Tag war der Tag des Herrn; er brachte süße
Ruhe für Leib und Seele. Nachdem wir alle die heiligen Orte gesehen
hatten, welche die klösterliche Überlieferung aufweist, eilten wir zur engen,
winkeligen Stadt hinaus und die freien Berge hinan, die ja unbezweifelt
dieselben waren wie damals, als der Herr hier wandelte. Eine große
Anzahl nazarethischer Frauen und darunter einige ganz anmutige Ge-
stalten kamen uns von dem sogenannten Marienbrunnen mit gefüllten
Krügen auf den Köpfen entgegen und verfolgten mit ihrer freundlichen
Zudringlichkeit meine Frau so lange, bis sie den Schleier lüftete und sich
vom Kopfe bis zum Fuße beschauen ließ. Sie glaubten wohl als morgen-
ländische Christinnen eine Art Recht zu haben, ihrer abendländischen
Schwester einmal ordentlich ins Gesicht zu sehen und zu lachen. Sie
drückten die dargebotene Hand ganz herzlich. Angelangt auf der Höhe
der ziemlich steilen Berge, von deren einem der wütende Volkshause den
Herrn hinabstürzen wollte — welch eine prachtvolle Aussicht sahen wir
da sich eröffnen! In der Ferne und in der Nähe ein wahres Meer von
Gebirgen! Im Süden die Gebirge Samarias; im Norden die Berge
Safeds, jener „Stadt auf dem Berge"; im Westen der langgestreckte
Karmel; im Osten die den See Genezareth umwallenden Höhenzüge;
dann in nächster Nähe der anmutige Tabor und ein Teil des kleinen
Hermon; in weitester Ferne aber die Gestalt des großen Hermon. Zur
Linken dämmerte das Mittelmeer herüber, und ringsum lagerte sich die
zwar jetzt von allem Grün entblößte, aber dafür im Immergrün glor-
reicher Erinnerungen prangende Ebene Jesreel, von deren nördlichem
Ende in einer Entfernung von etwa 12 Irin Kana-el-Djelil herdämmerte,
in aller Wahrscheinlichkeit jenes Kana in Galiläa, wo der Herr zum
ersten Male seine Herrlichkeit offenbarte. Dicht zu unseren Füßen
endlich lag tief unten im Felsenbecken., wie angeschmiegt Nazareth, ein
wahres „Veilchen Galiläas"; einzelne Öl- und Feigenbäume, aber hier
und da auch ein von dichtem Kaktus eingehegter Garten belebten die
grauen Wände des Felsenbeckens, während würzige Kräuter uns in
nächster Nähe süß umdufteten.
316. Jerusalem.
Welch' eine herzerschütternde Sprache reden diese Hügel, diese Steine,
Mauern und Türme! Wer möchte sie zählen alle die Thränen, welche
über diese Stätten geweint sind; wer vermöchte zu sagen, wie viel Blut
geflossen über die Steine dieser Stadt, und wie viel Flammenwogen sich
über diese Hügel wälzten! Zn vielen Malen erstürmt, verwüstet, aufgebaut
und zerstört, steht sie doch immer noch, wie auf ewigen Bergen gegründet.
Die Stadt ist aus vier Hügeln erbaut, von denen der Zion mit
der Burg Davids und der Morijah mit dem Tempel Jehovahs die
wichtigsten sind. Nach drei Seiten hin ist Jerusalem von schroffen
Thälern umschlossen, im Westen vom Gihon-, im Süden vom Hinnom-,
im Osten vom Josaphatthal; nur die Nordseite entbehrt einer solchen
natürlichen Befestigung. Von der Herrlichkeit des alten Jerusalem, von