1876 -
Berlin
: Wohlgemuth
- Autor: Wirth, Gustav, Theel, F. W.
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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unter seinen Kindern, Kindeskindern und Urenkeln. @e'
schlechter auf Geschlechter sind entstanden und vergangen
wie eine Blume des Feldes; aber der Alte ist im Sturme
der Jahrhunderte unerschüttert geblieben; eine wunderbare
Gotteskraft hat ihn erhalten zum lebendigen Zeugniß eine1’
längst verschwundenen Zeit» von welcher nur die Sage
berichtet.
Was für Geschichten könnte manche Eiche erzählen»
würde ihr die Rede verliehen! Die Eiche, von deren Holze
der alterthümliche Schrank und der unverwüstliche Tisch»
den du von deinen Großeltern überkommen hast, gearbeitet
wurde, sie hat vielleicht noch die alten heidnischen Sachsen,
deine Stammväter, unter ihrem Schatten lagern sehen, ihren1
tapferen Streite mit den mächtigen Franken zugeschaut
und sich altdeutscher Größe und Herrlichkeit gefreut, wenn
sie dem nervigen Arme des kriegslustigen Jünglings einen
festen Zweig darreichte zum Stiele für die wuchtige Streitaxt.
Wie die sinnigen Griechen die mächtige Eiche dein
mächtigsten ihrer Götter, dem erhabenen Donnerer Zeus,
geweiht hatten, so war auch unsern Altvordern dieser
Königsbaum dem mächtigen Donnergott Thor geheiligt, der
im zuckenden Blitz und rollenden Donner sich den Sterblichen
offenbarte. Der heilige Eichenhain durfte nicht von Um
eingeweihten, allein nur vom opfernden Priester betreten
werden, und wo eine heilige Eiche stand, würde keines
Menschen Hand gewagt haben, sie ihres Laubes oder ihrer
Zweige zu berauben oder gar umzuhauen. Dieses Recht
hatte allein der aus der Gewitterwolke zerschmetternd
niederfahrende Wetterstrahl ihres Gottes. Die alten Deutschen,
obwohl sie Heiden waren, hatten doch ein nicht minder
feines Gefühl für das Leben und Weben der unsichtbar 111
der Natur waltenden Gotteskraft als wir, ihre christlichen
Nachkommen. Von gemauerten, künstlich erbauten Tempeln»
wußten sie nichts; sie fanden die heilige Stätte für ihre
Gottesverehrung in jenen von Menschenhänden unberührten»
durch göttliche Allmacht erbauten Eichwäldern; dort, in1
geheimnißvollen Dunkel und in feierlicher Stille vernahmen
sie das leise Wehen der Gottheit. Einzelne ihrer Götter
mochten auf Bergesgipfeln und Felsenhöhlen und an Fluß'
ufern wohnen; aber der allgemeine Gottesdienst des Volkes
hatte seinen Sitz im grünen Hain, und nirgends anders
hätte er auch einen würdigeren Platz finden können. Denn
tritt nur hinein in die erhabene Stille eines Eichenwaldes,
sei es in der Frühe des Morgens, wenn die hohen Laub-
kronen im ersten Sonnenstrahle glänzen, oder am heißen