1877 -
Ruhrort
: Selbstverl. W. Ricken und C. Schüler
- Autor: Schüler, C., Ricken, W. M.
- Auflagennummer (WdK): 28
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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75. Die beiden Pflugschaare.
Ein Meister hatte in seiner Werkstätte zu gleicher Zeit aus dem-
selben Eisen zwei Pflugschaare geschmiedet. Ein thätiger Landmann
kaufte die eine derselben und gebrauchte ste bei seiner Arbeit auf dem
Felde. Die andere blieb bei dem Meister noch ein ganzes Jahr lang
in einem Winkel der Werkstätte liegen und ward in dieser Zeit ganz
vom Roste überzogen.
In diesem Zustande kaufte sie ein anderer Landmann und brachte
sie zufällig in die Nähe ihrer Schwester, die schon seit einem Jahre
gebraucht worden war.
„Wie ist das möglich!" rief sie aus, „du siehst ja so schmuck, so
glatt und blank aus, wie du nie zuvor ausgesehen hast! Ich lag die
ganze Zeit über ruhig und schonte mich, und doch hat mich der Rost
so zugerichtet."
„Eben weil du so sehr geschont wurdest," antwortete die blanke
Pflugschaar der verrosteten, „eben darum konnte dir der Rost zusetzen.
Unthätigkeit schadet immer mehr als Arbeit."
Uebung und Gebrauch entwickelt. Dein Geist verrostet, wenn du
ihn nicht anstrengst.
76. Die Bettlerin.
Zur Zeit der Theuerung ging eine unbekannte Bettlerin, die sehr
ärmlich, jedoch sehr reinlich gekleidet war, in dem Dorfe umher und
flehte um Almosen.
Bei einigen Häusern wurde ste mit rauhen Worten abgewiesen;
bei andern bekam sie eine sehr geringe Gabe; nur ein armer Bauer
rief sie, da es sehr kalt war, herein in die warme Stube, und die
Bäuerin, die eben Kuchen gebacken halte, gab ihr ein schönes, großes
Stück davon.
Am folgenden Tage wurden alle die Leute, bei denen die Unbe-
kannte gebettelt hatte, in das Schloß zum Abendeflen eingeladen. Als
sie in den Speisesaal traten, erblickten sie ein kleines Tischchen voll
köstlicher Speisen und eine große Tafel mit vielen Tellern, auf denen
hie und da ein Stückchen verschimmeltes Brot, ein paar Erdäpfel, oder
eine Hand voll Kleie, meistens aber gar nichts zu sehen war.
Die Frau des Schlosies aber sprach: Ich war jene verkleidete
Bettlerin und wollte bei dieser Zeit, wo es den Armen so hart geht,
eure Wohlthätigkeit auf die Probe stellen. Diese zwei armen Leute
hier bewirtheten mich, so gut sie konnten; sie speisen deshalb jetzt mit
mir, und ich werde ihnen ein Jahrgeld auswerfen. Ihr andern aber
nehmt mit den Gaben vorlieb, die ihr mir gereicht habt und hier auf
den Tellern erblickt. Dabei bedenkt, daß man euch einst in jener Welt
auch so auftischen wird. '
Wie man die Aussaat hier bestellt,
So erntet man in jener Welt. Ehr. Schmid.