1877 -
Ruhrort
: Selbstverl. W. Ricken und C. Schüler
- Autor: Schüler, C., Ricken, W. M.
- Auflagennummer (WdK): 28
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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141. Der Hahn.
Ern recht schöner, stolzer Hahn ist unter allen Vogeln der an-
genehmste. Hoch trägt er sein gekröntes Haupt, nach allen Seiten
spähen seine feurigen Augen, unvermuthet überrascht ihn keine Gefahr,
und jeder möchte er Trotz bieten. Wehe jedem fremden Hahne, der
es wagt, sich unter seine Hühner zu mischen, und wehe jedem Men-
schen, der sich erkühnt, in seiner Gegenwart ihm eine seiner Lieben zu
rauben! Alle seine Gedanken weiß er durch verschiedene Töne und
verschiedene Stellungen des Körpers auszudrücken. Bald hört man
ihn mit lauter Stimme seine Lieben rufen, wenn er ein Körnchen ge-
funden hat, denn er theilt mit ihnen jeden Fund; bald sieht man ihn
in einem Eckchen kauern, wo er eifrig bemüht ist, ein Nestchen für
die Henne zu bilden, die er vor allen liebt; jetzt zieht er an der
Spitze seiner Schaar, deren Beschützer und Führer er ist, hinaus in's
Freie; aber kaum hat er hundert Schritte gethan, so hört er vom
Stalle her den freudigen Ruf einer Henne, welche verkündet, daß sie
ein Ei gelegt hat. Spornstreichs kehrt er zurück, begrüßt sie mit zärt-
lichen Blicken, stimmt in ihren Freudenruf ein und eilt dann in vollem
Laufe dem ausgezogenen Heere nach, um sich wieder an dessen Spitze
zu stellen. Die geringste Veränderung in der Luft fühlt er und ver-
kündet sie durch ein lautes Krähen; mit lautem Krähen verkündet er
den anbrechenden Morgen und weckt den fleißigen Landmann zu neuer
Arbeit. Ist er auf eine Mauer oder ein Dach geflogen, so schlägt er
die Flügel kräftig zusammen und kräht und scheint sagen zu wollen:
Hier bin ich Herr; wer wagt's mit mir? Ist er von einem Men-
schen gejagt worden, so kräht er wieder aus Leibeskräften und verhöhnt
wenigstens den Feind, dem er nicht schaden kann. Am schönsten ent-
faltet er seine Pracht, wenn er früh morgens, der langen Ruhe
müde, das Hühnerhaus verläßt und vor demselben die ihm nachfolgen-
den Hühner begrüßt; aber noch schöner und stolzer erscheint er in dem
Augenblicke, wo das Geschrei eines fremden Hahnes seine Ohren
trifft. Er horcht, senkt die Flügel, richtet sich kühn empor, schlägt mit
den Flügeln und fordert mit lautem Krähen zum Kampfe. Erblickt
er den Feind, so rückt er ihm, sei er groß oder klein, muthig entgegen,
oder stürzt in vollem Laufe auf ihn zu. Jetzt treffen sie zusammen,
die Halsfedern sind aufgerichtet und bilden einen Schild, die Augen
sprühen Feuer, und jeder sucht den andern niederzuschmettern, indem
er mit aller Macht gegen ihn springt. Wer wird Sieger sein? Beide
scheinen an Muth, an Kräften gleich. Jeder sucht ein höheres Plätz-
chen zu gewinnen, um von dort aus mit größerer Gewalt fechten zu
können. Lange währt die Schlacht, aber immer kann sie nicht dauern.
Die Kräfte nehmen ab; es tritt eine kurze Ruhe ein; mit gesenktem
Haupte zur Vertheidigung und zum Angriff jederzeit bereit, mit dem
Schnabel Erdkrümchen aufpickend, als wollten sie den Feind dadurch
verhöhnen, daß sie mitten im Kampfe sich's wohlschmecken lassen, stehen