1877 -
Ruhrort
: Selbstverl. W. Ricken und C. Schüler
- Autor: Schüler, C., Ricken, W. M.
- Auflagennummer (WdK): 28
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Jthamar. „Du lügst, alter Graukopf! Her damit!"
_ Semnon. „Seht nur! Es sind ja lauter kleine dürre Reiser,
die ich zusammentrug, wie ich sie unter den Bäumen im Schnee zer-
streut fand."
Jthamar. „Entwendest hast du's! Was will ich deiner Lügen!"
— Da riß er dem Greise ungestüm die Bürde vom Rücken und warf
sie über die Brücke hinab dem Strome zum Spiele. „Nun ist der
Streit zu Ende!" sagte er höhnisch und trabte wild in das Haus.
Semnon sah ihm wehmüthig nach und wankte nassen Blickes von
dannen.
Nach einigen Tagen ward die Luft wärmer. Der Eisstoß ging.
Da schwammen die Stücke mächtig heran und bäumten sich krachend an
den Jochen empor. Schollen zerborsten zu Schollen und Trümmer zu
Trümmern. Eisballen sammelten sich sträubend zu Haufen und stemmten
sich und schwellten die Wasser des reißenden Stromes. Da kam Chalisson,
Jthamars Sohn, aus der Stadt und wollte über die Brücke wandern.
Aber er bebte unschlüssig und erschrocken zurück, als er die Schauder-
scene sah. Semnon selbst, der eben in der Gegend einen Kahn zim-
merte, mißrieth ihm, sein Leben in die Todesgefahr zu begeben. Jtha-
mar sah's. „Komm nur hurtig herüber!" rief er trotzig, „die Brücke
wird eben nicht brechen; weiß Gott, zu was dich sonst der alte Haderer
noch verleiten würde. Komm herüber!" Chalisson lief. Stoß auf
Stoß an die Brücke; er wankte. -Noch ein Stoß; jetzt fiel er nieder.
Nun wieder einer; da sank die Brücke und stürzte in das Wasser, und
der Knabe mit. Wie wüthete da der Vater drüben! Wie jammerte
Semnon, der Greis, herüber! Fürchterlich heulte im Fluß der Knabe
und schrie um Hülfe. An einem Balken eingeklemmt, halb vom Eise
erdrückt, riß ihn der Strom hin. Untröstlich lief der Jäger am Ge-
stade umher, stampfte den Boden und schrie und rang muthlos die
Hände. Wie konnte er hoffen, daß der Fischer den Unglücklichen retten
würde! Aber Semnon mit den Silberhaaren sprang beherzt in seinen
Kahn und zwang ihn muthig durch die Schollen und durch die Tan-
nenbalken der Brücke, riß den Knaben aus dem Strudel und brachte
ihn glücklich zum Vater an's Land. „Hier geb' ich dir deinen Sohn
zurück," sagte er liebreich, mit einem Tone, der selbst Wölfe bezähmt
hätte, „sieh', er ist frisch und gesund, nur ein wenig erschrocken."
Jthamar getraute sich nicht, die Augen aufzuschlagen, und stand lange
beschämt und stumm da. „Vergieb mir, redlicher Greis!" sprach er
endlich gerührt und mit einem Strome von Zähren, die ihm wider
Willen die rauhen Wangen hinabstürzten, „vergieb mir mein hartes
Betragen!" — „Was soll ich dir vergeben?" erwiderte Semnon mit
freundlicher Miene, „hab' ich mich denn nicht eben genug an dir
gerächt?"
Jthamar. „Also war Wohlthun deine Rache, beleidigter Mann?
— Gott! rächt sich der Redliche so?"