1877 -
Ruhrort
: Selbstverl. W. Ricken und C. Schüler
- Autor: Schüler, C., Ricken, W. M.
- Auflagennummer (WdK): 28
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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General Winterfeld gefallen, die Festung Schweidnitz über-
gegangen, der Herzog von Bevern gefangen genommen, Breslau
dem östreichischen Heere übergeben worden, und Schlesien schien
für den König verloren. In solchen, fast verzweiflungsvollen Augen-
blicken hat er am glänzendsten die Grösse seines Geistes, den
Reichthum seiner Entwürfe und die unwiderstehliche Gewalt dar-
gethan, womit er die Gemüther der Seinigen lenkte. Er berief
Beine. Heerführer und Befehlshaber zusammen und hielt ihnen mit
seelenvoller Beredsamkeit eine Rede, welche sie zu der grössten
Begeisterung entflammte. Er zeigte ihnen die gefährliche Lage
des Vaterlandes, ja die ganz verzweifelte, wenn er nicht von ihrem
Muthe noch Rettung erwarte. — „Ich weiss, Sie alle fühlen, dass
Sie Preussen sind,“ so schloss er, „ist aber einer unter Ihnen,
der sich fürchtet, solche Gefahren mit mir zu theilen, der kann
noch heute seinen Abschied erhalten, ohne von mir den geringsten
Vorwurf zu leiden.“ Auf diese Fra^ge leuchtete ihm nur Rührung
und der höchste Kriegsmuth aus allen Augen entgegen, und mit
freudiger Miene fuhr er fort: „Im Voraus war ich überzeugt, dass
keiner von Ihnen mich verlassen würde; so hoffe ich denn auf
einen gewissen Sieg. Sollte ich fallen und Sie für Ihre Dienste
nicht belohnen können, so muss es das Vaterland thun. — Nun
leben Sie wohl! In Kurzem haben wir den Feind geschlagen,
oder wir sehen uns nie wieder.“
Die begeisternde Kraft dieser Rede ergoss sich bald über das
ganze Heer, und es erwartete mit Ungeduld unter die Augen der
Gegner geführt zu werden. Diese hatten eine treffliche feste Stellung
hinter der Lohe, wo es dem Könige sehr schwer geworden sein
würde, sie anzugreifen. Der vorsichtige Feldmarschall D au n rieth,
hier zu bleiben, er hatte bei K ollin erfahren, welche herrliche
Schutzwehr gegen des Königs Ungestüm eine gute Stellung sei;
der General Luchesi aber und andere, die es für schimpflich
hielten, mit einem grossen siegreichen Heere gegen einen so klei-
nen Haufen sich durch feste Stellungen zu schützen, redeten dem
Prinzen Karl zu, dem Könige entgegen zu gehen. „Die berlinische
Wachtparade,“ so nannten sie die kleine Preussen-Schaar, „werde
nicht gegen sie Stand halten können.“ — Dieser Rath gefiel dem
von Natur feurigen Prinzen mehr, als der bedächtigere, und er
verliess sein Lager. Auf offenem Felde, in der Gegend von Leiltlieil,
trafen beide Heere am 5. Dezember, gerade einen Monat nach der
Rossbacher Schlacht, auf einander. Das kaiserliche nahm mit
seiner Schlachtreihe fast eine deutsche Meile ein; Friedrich
dagegen musste sich wieder auf die Kunst verlassen, die eine
geringe Zahl durch schnellen Gebrauch zu verdoppeln weiss. Er
ordnete hier bei L e u t h e n sein Heer wiederum in die schräge
Schlachtreihe, liess einen verstellten Angriff auf den rechten feind-
lichen Flügel machen, während der eigentliche Stoss auf den liu-
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