1877 -
Ruhrort
: Selbstverl. W. Ricken und C. Schüler
- Autor: Schüler, C., Ricken, W. M.
- Auflagennummer (WdK): 28
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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kürzer, als um Johanni, aber die Sonne kommt doch jeden Morgen
zum Vorschein, wenn sie auch etwas auf sich warten läßt. In jenen
Gegenden jedoch hat sie auf lange Zeit Abschied genommen, und die
Kerzen am Weihnachtsbaum können des Mittags um 12 Uhr ange-
zündet werden, und wer will, kann des Morgens um 6 Uhr zu Bett
gehen und des Abends um 6 Uhr aufstehen, es ist alles einerlei, fin-
ster ist es und bleibt es, so daß mancher zuletzt gar nicht mehr wiffen
mag, ob es denn eigentlich Tages- oder Nachtszeit ist. Gewiß wür-
den einem guten Deutschen, mag er nun ein Preuße oder ein Oest-
reicher sein, die Thränen in die Augen treten, sollte er die Sonne auf
mehrere Monate scheiden sehen.
So wird der Winter im hohen Norden von einer mehrere Monate
langen Nacht begleitet, wogegen der Sommer durch eben so lange
Gegenwart der Sonne entschädigt. So gut es aber dann auch die
Sonne meint, ein Sommer in unserm deutschen Vaterlande ist mir
doch lieber, als im Norden von Schweden und Norwegen. Zwar
überziehen sich in kurzer Zeit die Thäler mit einem saftigen, vollen
Grün, auch fehlt es nicht an Blüthen mancherlei Art, und die Wärme
steigert sich mit jeder Stunde, da die abkühlende Nacht nicht eintritt —
aber an Kirschen und Birnen ist nicht zu denken, ja nicht einmal an
Kartoffeln, und Brot aus Roggen gilt als Delikatesse. Wer dort
wohnt, bekommt keinen andern Baum zu sehen, als die Tanne oder
die Birke, und wer aus unserm Vaterlande dort hinziehen will, der
nehme nur Abschied von den Buchenwäldern und Obstbäumen, von
der Weinrebe und den Weizenfeldern. Anfangs begleiten ihn zwar
noch alte Bekannte: Apfelbäume, Birnbäume, Buchen und Eichen; aber
je weiter er refft, je mehr bleibt einer nach dem andern zurück, bis er
zuletzt nur noch die düstere Tanne und die zierliche Birke neben sich
schauet; aber ehe er sich's versieht, sind diese zu Zwergen zusammen-
geschrumpft, die kauernd hinter Klippen und in Schluchten Schutz
suchen. Hält er immer noch nicht an in seiner Wanderung, so nehmen
auch diese Zwerglein von ihm Abschied, und nun erinnert ihn nur
noch Weidengebüsch an sein Heimathland, bis auch dieses verschwindet,
Haidekraut das endlose Wellenland überzieht, Moose und Flechten den
Boden polstern und als die einzig Unüberwindlichen siegreich über die
Feinde alles Lebens, über Frost und Schnee triumphiren. Das Blöcken
der Schaf- und Rindvieh-Heerden hat sein Ohr schon längst nicht mehr
vernommen, schöne, kräftige Hirten sein Auge schon längst nicht mehr
gesehen. Die Menschen, die er hier und dort etwa antrifft, kommen
ihm fremdartig vor, kleiner als daheim, mit einem andern Schnitt der
Kleider und mit einem andern Schnitt des Gesichts. Es sind die
Lappländer, mit welchen er im Norden von Schweden und Nor-
wegen Bekanntschaft macht.
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