1877 -
Ruhrort
: Selbstverl. W. Ricken und C. Schüler
- Autor: Schüler, C., Ricken, W. M.
- Auflagennummer (WdK): 28
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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57. Bas Veilchen.
Draussen an der Hecke, am Bergeshange, dort sitzt das
Veilchen im Herbste wie ein Kind, dem Vater und Mutter gestor-
den , verlassen und einsam. Kein Mensch mag es suchen. Nie-
mand bemerkt es. Es kommt der kalte Winter, Schlossen und
Schneeflocken fallen, und der scharfe Wind fährt durch die Berge.
Blau-Veilchen hat kein Obdach, keinen Schutz vor dem bittern
Froste. Die hohen Büsche, die im Frühlinge schön weiss und
roth blühen, die Bosen und Weissdorngesträuche, Buchen und
Haseln haben den ganzen Sommer hindurch in schönen grünen
Blättern geprangt; nun ist ihr Gewand verschossen und gelb
geworden, auch wohl von Würmern und Raupen zerfressen; da
werfen sie, wie reiche hohe Herren, die alten Kleider stolz hin-
weg. Ihre Knospen haben sie mit harten, glänzenden Schalen
umhüllt, sie sind ein guter Schutz gegen den Frost. Das arme
kleine Veilchen erhält die abgetragenen Sommerkleider der Büsche
als warme Decken im kalten Winter. Mit geborgten und erbete-
nen Sachen ist es umhüllt, gleich einem Waisenkinde draussen
am Zaun.
Doch jetzt kommt der Frühling, und nun wird das arme
Veilchen mit einem Male sehr reich. Unten hat es viele feine
Wurzeln, die trinken Maitrank — niedliche Blätter breiten sich
nach allen Seiten aus, jedes zierlich geformt, wie ein Herz.
Adern ziehen durch dasselbe links und rechts; der Rand ist mit
kleinen Zähnen versehen; es ist ein feiner Spitzenbesatz an seinem
neuen Gewände. Auf dünnem Stiele steht die blaue Blüthe keck
und lustig, wie auf einem Bein, fertig zum Frühlingstanz in der
Warmen Luft. Fünf Blüthenblätter bilden die Blüthe, fünf Kelch-
blätter umschliessen sie aussen. Aus blauer Seide sind die ersten,
grün ist der Ueber warf, und die übrigen Blätter bilden das Unter-
kleid von gleicher Farbe. Ein goldener Schmuck ist vorn auf
der Brust, und einen Sporn hat das untere Blüthenblatt, gleich
einem vornehmen Ritter und Herrn. Auch der trotzige Bart fehlt
ihm nicht, an den Seitenblättern sitzt ein solcher. Des Veilchens
Sporn ist jedoch nicht so grausam, als derjenige des Reiters, der
das Pferd blutig ritzt, er ist zart und weich und dient dem Veil-
chen jetzt in seinem Reichthums als Vorrathskammer. In den
himmeeblauen Saal seiner Blüthe, mit seidenen Tapeten geschmückt,
führt eine goldene Pforte; fünf Staubgefässe und ein Stempel bil-
den sie; unten ist ein offenes Thor; dunkle Linien auf hellerem
Grunde zeigen den ankommenden Gästen den Weg zur reichen
Tafel. Honigmale nennt man diese Streifen, denn süsser Honig
ist die aufgetragene Speise. Wunderholde Schmetterlinge flattern
im Sonnenscheine als vornehme Prinzen dem Veilchen zu; fleissige
Bienen eilen verständig summend zu seinem Reichthums; alle