1888 -
Berlin
: Reimer
- Autor: Wilmsen, Friedrich Philipp, Pischon, Friedrich August
- Auflagennummer (WdK): 226
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Iï. Erzählungen
Heu, was sie von Esswaaren und Getränken sah. Sie
war deshalb oft von ihren Vieltem bestraft worden, weil
Näscherei nicht nur sehr unanständig ist, sondern weil sie
auch Ursache wird, daß man überhaupt seine Begierden
nicht mäßigen und beherrschen lernt.
Friederike ließ sich durch keine Strafe abhalten, wenn
ihr die Lust ankam, zu naschen. Die Gartenthüre musste
um ihrentwillen beständig verschlossen sein, so lange Obst
im Garten war; denn sie pflückte Alles, was sie erreichen
konllte, sogar unreif, ab, biß die Aepfel und Birnen an,
und warf sie weg, wenn sie noch hart waren. So verdarb
sie säst eben so viel Obst, wenn sie ein Mal in den Garten
kam, wie das Ungeziefer.
Gar zu gern schlich sie sich in die Milchkammer, wo
sie die Sahne mit den Fingern aus den Milchgefäßen nahm.
Anfangs glaubte man, daß die Katze diese Näscherinn wäre,
und schaffte sie ab; aber bald entdeckte sichö, daß Frie-
derike den Schlüssel zur Milchkammer sehr gut zu finden
wusste. Es war also nicht zu verwundern, daß die Aeltern
gar kein Zutrauen mehr zu ihr hatten, und Alles vor ihr
verschlossen, wie vor einem Diebe. Einige Mal war sie
sogar über den Wein gerathen, welchen der Nater für
Freunde in einem Essschranke stehen hatte, und war davon
berauscht und tödtlich krank geworden.
Eines Tages war sie in der Stube allein, und solche
Zeiten pflegte sie gern zu ihren Näschereien zu benutzen.
Sie sah sich um, ob irgend ein Schrank offen stände oder
ob Schlüssel da wären; endlich bemerkte sie oben aus bcm
Schranke ein Näpfchen.
Sogleich machte sie Anstalt, zu sehen, ob Etwas für
sie zu naschen darin wäre. Sie setzte einen Stuhl an den
Schrank, und da dieser noch nicht hoch genug war, rückte sie
auch den Tisch hinan, stieg vom Stuhle ans den Tisch, und
nahm das Näpfchen hernnter. Es war etwas Weißes dar-
in, wie gestoßener Zukker, sie tunkte die Fingerspitzen ein,
und kostete; es schmeckte süß, und sie leckte also begierig.
Plötzlich trat die Mutter zur Thür hinein. Friederike
erschrak so sehr, daß sie fast vom Tische gefallen wäre; aber
noch größer war der Schreck der Mutter, da sie sah, daß Frie-
derike Gift aß, welches für die Fliegen hingesetzt war. Un-
glückskind! rief sie, was machst du? — feie hob sie gleich
vom Tische, schickte zu dem Arzte, gab ihr Milch ein, daß