1871 -
Einbeck
: Ehlers
- Autor: Brakenhoff, Heinrich Ludwig
- Auflagennummer (WdK): 13
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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. Von der Seele des Menschen.
Derselbe hat für uns ebenfalls einen großen Nutzen;
denn er macht, dass wir täglich klüger und besser werden;
indem er uns antreibt, dasjenige zu' thun, was wir erfah-
rene und verständige Leute thun sehen. —
Die Affen haben zwar auch den Trieb der Nachah-
mung; weil sie aber keine Vernunft haben, so können sie
nur äußere Dinge, Geberden und Handlungen,
aber nicht innere und unsichtbare Gedanken und Gesin-
nungen nachahmen. —
§. 11.
Ich war vor einiger Zeit in Hamburg, ging eines
Tages am Hafen spazieren, als gerade ein Schiff aus Ost-
indien ankam, das zwei Jahre abwesend gewesen war. Auf
einmal kamen zwei Frauen zum Hafen gelaufen, um zu
sehen, ob ihre^ lieben Männer, die mit diesem Schiffe ab-
gereiset waren, auch gesund zurückgekommen wären.
Die Freude der einen Frau war unbeschreiblich groß,
als sie ihren Mann auf dem Vordertheile des Schiffes
erblickte. Sie streckte die Arme nach ihm aus, und wusste
vor Freude kaum, wo sie war; ja sie wäre im Taumel
ihres Entzückens vielleicht ins Wasser gestürzt, wenn ein
Freund, der neben ihr stand, sie nicht festgehalten hätte.
Ihr Mann war eben so hoch erfreut, seine geliebte Gat-
tinn wieder zu sehen; mit ausgebreiteten Armen lief er
bis auf den äußersten Rand des Schiffes ihr entgegen.
Aber nun richtete ich meine Augen auf die andere
Frau. O die arme Person! Auch sie hoffte ihren lieben
Mann nach einer so langen Abwesenheit gesund wieder in
ihre Arme zu schließen. Aber welch ein Donnerschlag war
es für sie, da ein Bootsknecht vom Schiffe herab ihr zu-
rief, dass ihr Mann bei einem Sturme vom Verdecke
hinab ins Meer geworfen und ertrunken sei! Ach, wie sie
vor Verzweiflung schrie, seinen Namen rief und die Hände
rang; es war höchst traurig anzusehen. Sie hörte, sahe
und dachte an nichts, als an ihren unersetzlichen Verlust.
Einen solchen Zustand unserer Seele, da sie sich so
sehr freuet oder sich so sehr betrübt; so heftig Etwas be-
gehrt, oder so heftig etwas verabscheuet, dass sie an nichts
Anderes denkt, nichts Anderes hört und steht, und dass das
Blut in unsern Adern sich viel schneller bewegt, nennt man
Affekt, auf deutsch: Leidenschaft. Die Seelen der