1877 -
Essen
: Bädeker
- Autor: Haesters, Albert
- Auflagennummer (WdK): 90
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch, Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Römisch-Katholisch
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das Thal. Führt sie zu einem frischen Labtrunk am Wiesenborn, giebt
ihnen aufzutischen gar manches Gerstenkorn. Und daß auch nicht der
Braten abgehe bei dem Schmaus, so ist er gleich berathen und geht
aufs Jagen aus. Ein Käfer kommt gewackelt, schön dunkelgrün und
roth, da wird nicht lang gefackelt; Herr Hahn, der schießt ihn todt.
Und schlachtet mit dem Schnabel den Käfer, wie ein Kalb, und theilt
ihn ohne Gabel in Stücke halb und halb. Dann ruft er alle Hennen
mit „gluck, gluck, gluck!" zu Häuf', die wackeln und die rennen daher
im schnellsten Lauf. Und nach dem Braten recken sie den gestreckten
Hals und lecken ihn und schmecken ihn ohne Salz und Schmalz. Und
wenn das Schnabulircn hierauf ein Ende hat, dann führt er sie mit
ihren Küchlein zur Ruhestatt. Er aber vor dem Stalle singt noch ein
„Kikriki" und rastet nicht, bis Alle auch eingeschlafen hie. Dann legt
er auf die Seiten den zunderrothen Kamm, daß morgen er bei Zeiten
den Bauer wecken kann.
10. Das Kanarienvögelcheir.
Ein kleines Mädchen, Namens Karoline, hatte ein allerliebstes
Kanarienvögelchen. Das Thierchen sang vom frühen Morgen bis
zum Abend und war sehr schön, goldgelb mit einem schwarzen
Häubchen. Karoline gab ihm zu effen, Samen und kühlendes
Kraut, zuweilen auch ein Stückchen Zucker und täglich frisches
Wasser. Aber plötzlich begann das Vögelchen zu trauern, und
eines Morgens, als Karoline ihm Wasser geben wollte, lag es todt
im Käfich.
Da erhob die Kleine ein lautes Wehklagen um das geliebte
Thier und weinte sehr. Die Mutter aber ging hin und kaufte ein
anderes, was noch schöner an Farbe war, und eben so lieblich sang
wie jenes, und that es in den Käfich. Aber das Mädchen weinte
uoch lauter, als es das neue Vögelchen sah. Da wunderte sich die
Mutter sehr und sprach: „Mein liebes Kind, warum weinst du noch?
Deine Thränen werden das gestorbene Vögelchen nicht wieder ins
Leben rufen, und hier hast du ja ein anderes, das nicht schlechter ist
als jenes!"
Da sprach das Kind: „Ach liebe Mutter, ich habe unrecht gegen
das arme Thierchen gehandelt und nicht alles an ihm gethan, was
ich sollte und konnte." — „Liebe Karoline," antwortete die Mutter,
„du hast es ja liebevoll gepflegt!" — „Ach nein," erwiderte das
Kind, „ich habe noch kurz vor seinem Tode ein Stückchen Zucker, das
du nur für das Vögelchen gabst, ihm nicht gebracht, sondern selbst
gegessen." So sprach das Mädchen mit betrübtem Herzen.
Die Mutter aber lächelte nicht über die Klagen des Mädchens,
sondern sagte: „Ach, wie mag erst dem undankbaren Kinde zu Muthe
sein am Grabe seiner Eltern!"
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