1895 -
München
: Oldenbourg
- Auflagennummer (WdK): 22
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule, Fortbildungsschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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134. Der Kalk.
verglühen. Die Steine werden wieder kalt; einsam, ohne
Freund liegt der gebrannte Kalk da, voll unendlicher Sehn-
sucht nach seinem verjagten Geführten. Wir müssen vor-
sichtig mit ihm umgehen, denn er ist sehr unzufrieden ge-
worden. Wollten wir ihn länger in der feuchten Hand
halten oder gar an die nassen Lippen bringen, so würden
wir bald an dem brennenden Schmerze, den er erzeugt,
seine Heftigkeit erkennen. Ätzkalk nennt man ihn wegen
des scharfen Schmerzes, den er hervorbringt.
Wir tröpfeln auf ein Stückchen gebrannten Kalk all-
mählich Wasser. Der Kalk dampft auf, erhitzt sich und
zerfällt in sehr feines Pulver, in Kalkstaub. Sobald das
ganze Stück zerfallen ist, hören wir auf, Wasser zuzu-
tröpfeln. Das schneeweiße Pulver, das wir jetzt statt des
Steines vor uns haben, ist vollständig trocken; wägen wir
es aber, so finden wir, daß cs jetzt 4 g schwer ist, wenn
es vorher nur 3 g wog. Das eine Gramm kommt von
dem Wasser, das der Kalkstein wieder aufgenommen hat.
Die Magd benutzt das Pulver, um die Schlösser und
Klinken an den Thüren oder andere metallene Sachen blank
zu machen.
Ganz in gleicher Weise zerfällt der gebrannte Kalkstein,
wenn er an der Luft längere Zeit frei liegen bleibt. Er
zieht dann unablässig die Wasserteilchen, welche in der Luft
sich befinden, an sich und verbindet sich mit ihnen. Der
Landmann fährt diesen Kalk auf die Felder und bringt
dadurch den Boden zu größerer Fruchtbarkeit.
Gewöhnlich tröpfelt man nicht das Wasser auf den
gebrannten Kalk, sondern schüttet es gleich in Menge über
denselben aus. Er nimmt dann zischend und sprudelnd
den Freund auf, und das Wasser kocht und dampft dabei,
als sei Feuer in dem Gefäße. Es entsteht ein weißer Brei,
welchen der Maurer benutzt, um das Haus zu weißen, oder
den er mit Sand zu Speis mischt, um die Steine zu einer
Mauer zu verbinden. (md, H. W->gncr.)