1895 -
München
: Oldenbourg
- Auflagennummer (WdK): 22
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule, Fortbildungsschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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74. Jerusalem.
liche Kirche des heiligen Grabes. Zwei Säulengänge, der
eine über dem andern, laufen längs ihrer runden Wände.
Über ihnen wölbt sich eine majestätische Kuppel, durch deren
große Öffnung das Tageslicht prächtig hereinströmt. Senk-
recht darunter stehet, wie eine kleine Kirche in einer großen,
das heilige Grab, von weißem Marmor aufgeführt. Im
Innern enthält es zwei in den Kreidefelsen gehauene, aber
gleichfalls mit Marmor überkleidete Gemächer. Durch die
Eingangspforte, vor welcher vier hohe silberne Leuchter mit
armdicken brennenden Wachskerzen stehen, gelangt man zuerst
in ein kleines Gemach, die Engelskapelle. Aus dieser tritt
man tief gebückt durch ein enges Pförtchen in die eigentliche
Grabkammer, deren größere Hälfte der Altar einnimmt,
welcher den Felsensarg des Herrn bedeckt. Viele kleine Nischen
umgeben den Altar, geschmückt mit goldenen und silbernen
Leuchtern und Gefäßen. Viele Lampen — Geschenke von
Päpsten, Kaisern und Königen — erleuchten die Grotte
Tag und Nacht. Die Luft ist erfüllt vom Duft des Weih-
rauchs, der hier reichlich angezündet wird. Alles ist still.
Niemand wagt ein lautes Wort zu sprechen. Unsere Seele
versinkt in unaussprechliche Gedanken bei der Vorstellung
des einzigen Grabes der Erde, welchem der jüngste Tag
keinen Toten abzufordern hat.
Wir durchschritten das nach dem Blutzeugen Stephanus
benannte Thor, und vor uns lag das tiefgeschluchtete Thal
Josaphat und gegenüber der Ölberg. Wir gingen den
steilen Fußpfad hinab und über die Brücke des im Sommer
wasserleeren Kidron. Jenseits stehen wir an einem um-
mauerten Gartenraum. Wir klopfen an die kleine Pforte,
ein Wächter öffnet uns, und wir sind in Gethsemane.
Es ist ein viereckiger Platz, mit vielen Blumenbeeten und
acht uralten Olivenbäumen geschmückt. Eine feierliche Stille
umgab uns. Kein Geräusch der Stadt drang zu unsern
Ohren. Unwillkürlich schwebte das Bild de§ Erlösers vor
die Seele, wie er hier trauerte und zagte.